Öffentlichkeit

Der Begriff der Öffentlichkeit

Bei nur statistischer Auswertung der erfassten Schriftzeugnisse ist auf den ersten Blick erkennbar: Der Begriff „Öffentlichkeit“ hat in der uns interessierenden Epoche herausragende Bedeutung. In den über 1600 erfassten Dokumenten wird er über 600 Mal benutzt. Dies ist nicht zufällig, sondern bestätigt seine unbestreitbare Relevanz in Theorie und Praxis. Die Forderung nach Herstellung der Öffentlichkeit ist unauflösbar mit den Vorstellungen von Politik und Demokratie verbunden. Demokratie ohne Öffentlichkeit kann es nicht geben. Im Verlauf der Protestbewegung, die von der Idee der direkten Demokratie geleitet wird, gilt dies in deren Grundvorstellungen unverkennbar. Jedoch hat der Begriff hier einen besonderen Inhalt. Negt formuliert dies anlässlich der Osterunruhen unter dem Eindruck der damaligen Ereignisse folgendermaßen:

„Die Studenten und mit ihnen die gesamte Außerparlamentarische Opposition haben kein eigenes von der Gesellschaft akzeptiertes Medium öffentlicher Selbstdarstellung und Kritik; sie können sich gegen den massiven Ansturm der Diskriminierungen, der verzerrenden Darstellungen ihrer Absichten nur wehren, wenn sie sich eine eigene, unzensierte Öffentlichkeit verschaffen. Da sie ohne Selbsthilfe in der Tat weitgehend von dem Resonanzboden der liberalen Presse, in der die Zensuren des Systems meist ungebrochen wirksam sind, abhängig sein würden, sind sie auf die Öffentlichkeit der Straßen, der freien Plätze, der Schulen, der Hochschulen angewiesen, wenn sie sich nicht auf die bürokratisch – stumme Anwendung von Demonstrationstechniken abdrängen, sondern Diskussionen und Aktion als gleichwertige Bestandteile der politischen Praxis begreifen wollen.“[1]

Dementsprechend ist eine Aktion nur dann „gut“, wenn sie in dieser ihr eigenen Öffentlichkeit der Straßen, der freien Plätze, usw. stattfindet. Parallel hierzu gilt es, die hermetischen Strukturen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu durchbrechen, „deren Funktion längst nicht mehr in der Widerspiegelung des grundlegenden gesellschaftlichen Konflikts, sondern in der funktionalen Beherrschung der Massen, in ihrer Ausrichtung auf die Disziplin kapitalistischer Produktion besteht.[2] Diese besondere Begrifflichkeit läßt sich an zahlreichen Vorgängen illustrieren: So heißt es in einem Flugblatt des Studentenparlaments anläßlich einer Demonstration gegen den Schah Besuch in Berlin in Sinne der These Negts:

Das Studentenparlament ist sich mit Vertretern der Öffentlichkeit einig, daß Demonstrationen nicht die besten Protestformen sind und daß ein Protest möglichst mit rationalen Mitteln vertreten werden sollte. Wegen der einseitigen Informationen über die Zustände in Persien (siehe Illustriertenartikel über den Winterurlaub des Schahs etc. und die Sendung ’Der moderne Iran’ vom 21. 5. d. J. im Dt. Fernsehen) und den nicht gegebenen Möglichkeiten zu rationaler Argumentation und Beweisführung betrachtet das Studentenparlament die Aktionen persischer und deutscher Studenten gegen den Schah als die einzig möglichen. Die Öffentlichkeit kann bei ihrem bewußt niedrig gehaltenen Informationsstand nur durch solche eklatante Protestformen auf die wahren Zustände in Persien hingewiesen werden.“[3]

Oder in einem Flugblatt des AStA vom 16.06.1967 anläßlich einer von ihm ausgerufenen „Notstandswoche“:

Notstandswoche des AStA. – Die vorweggenommene Notstandspraxis gegen die Studenten in Berlin wurde von einer umfassenden Verschleierungsaktion der herrschenden Presse, der Polizei und der Behörden über die wahren Ursachen des Todes eines der Studenten und der Vorfälle bei der Demonstration selbst begleitet. Die Studenten wurden gezwungen, selbst die Öffentlichkeit an der Universität und in der Stadt durch Informationsstände und Teach-Ins auf die Gewalt hinzuweisen, die erst den Studenten und dann der Wahrheit angetan worden war.“[4]

Diese Interpretation von Öffentlichkeit veranlasst den SDS selbst dort zu Störaktionen, wo er mit der Hilfe der „liberalen Öffentlichkeit“ rechnen kann. So verhindert er beispielsweise die Kundgebung gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung in dritter Lesung, weil „die institutionalisierte Öffentlichkeit als politische und damit als Faktor der Politisierung“ nicht existiert.

Im Bereich der Hochschulpolitik werden die Vorstellungen von Öffentlichkeit in dem Programmsatz der Resolution der 22. Delegiertenkonferenz des SDS vom 03.09.1967 formuliert:

Die durch das Studentenparlament und die Institutsvertretungen allein nicht herzustellende Öffentlichkeit kann nur durch politische Massenaktionen der Studentenschaft auf dem Campus geschaffen werden. Diese Form der Öffentlichkeit ist unerläßliches Element des politischen Lernprozesses, der die Selbsttätigkeit der Studenten zum Ziel hat, und ist Bedingung für die Möglichkeit der Weiterarbeit in den Institutionen.“[5]

Welche Bedeutung dieser „aufklärenden, praktisch – kritischen, unmittelbar demokratischen Gegenöffentlichkeit“ vor allem auch im hier besonders interessierenden Zusammenhang der Hochschule zukommt, wird in folgenden Sentenzen des SDS noch deutlicher, der sich gegen öffenlichkeitsferne Gremienpolitik wendet und an deren Stelle die direkte – die öffentliche – Aktion setzen will:

„Es reicht heute nicht mehr aus, nur die Forderung nach Öffentlichkeit der Senats – und Fakultätssitzungen zu erheben; es ist sinnlos, sich ausschließlich damit zufrieden zu geben, wenn das Studentenparlament ein paritätisches (50%) Abstimmungsrecht in allen Universitätsgremien oder die Abschaffung der Disziplinargerichtsbarkeit fordert, und ebenso ergebnislos muß die bloße Aufforderung an einen Ordinarius bleiben, seine Lehrveranstaltung auf ihre politische Implikationen und didaktischen Wert hin zu diskutieren. Wir werden nur dann eine Hochschulpolitik betreiben, die die Interessen der Studenten effektiv vertritt, wenn wir auf dem Hintergrund unserer Forderungen zur direkten Aktion übergehen und die studentische Politik aus dem öffentlichkeitsfernen Parlament hinaus auf den Campus tragen. Wir dürfen nicht darauf warten, bis man uns unsere Rechte freundlich gewährt, sondern müssen heute unsere Forderungen praktizieren, indem wir die ’wertfreie’ Seminardiskussion unmittelbar in eine politische verwandeln, indem wir die Auslieferung von Springererzeugnissen durch sit-ins verhindern – und indem sich die studentischen Vertreter im Senat gegenüber der Studentenschaft nicht an die Schweigepflicht halten. Ebenso werden die Senats – und Fakultätssitzungen erst dann öffentlich sein, wenn wir uns die Öffentlichkeit im Senat erzwungen haben.“[6]

Es bedarf keiner weiteren Erläuterungen, daß diese Ankündigungen unausweichlich darauf gerichtet sind, in jeder Hinsicht Konflikte mit der Hochschule, den Hochschullehren und der Hochschulleitung zu provozieren, die Teil der verkrusteten Gesellschaft sind, die es zu verändern gilt. Vor allem die Hochschulleitung und die Gremien der Universität können sich nicht der Illusion hingeben, in der Geborgenheit der Selbstverwaltungsbürokratie unbehelligt zu bleiben. Die dann folgenden Aktionen beweisen dies, wobei allerdings anzumerken ist: bei näherem Hinsehen verkommt die „aufklärende, praktisch – kritische, unmittelbar demokratische Gegenöffentlichkeit“ in der Wirklichkeit häufig zum reinem sektiererischen AktionismusDas Spektakel als solches tritt in der Vordergrund tritt. Gerade hier fällt der Unterschied zwischen Idee und Wirklichkeit vornehmlich auf. Immerhin: Die Aktionen sind nicht selten in ihrer weltverbessernden Attitüde gutgemeint und meist grenzenlos idealistisch.

Am ungeschütztesten sind die Hochschullehrer in ihren Lehrveranstaltungen. Immer wieder geraten sie in Rechtfertigungszwang, sollen sich mit politischen Forderungen solidarisieren, haben die politischen Implikationen ihrer Lehre mitzubedenken, können ihr Lehrveranstaltungsprogramm nicht realisieren oder werden gar daran gehindert, überhaupt zu unterrichten. Aus der Sicht ihrer Kritiker sind sie als Vertreter des verhaßten Systems Träger von Herrschaft und die Studenten sind deren Befehlsempfänger.[7] Dieses Abhängigkeitsverhältnis gilt es zu durchbrechen. Sie werden als Scheißtheoretiker und Studentenverräter‘ diffamiert.[8]

Besondere Bedeutung für die „Herstellung der Öffentlichkeit“ hat neben der Demonstration das Teach-in. Hier werden agitierend, möglichst massenhaft, die Aktionen in angeblich freier Diskussion vorbereitet. In Wirklichkeit steuern meist taktische Überlegungen einer kleinen Clique den Gang der Dinge. Zutreffend diagnostiziert Adorno, daß die gewollten Ergebnisse stets parat sind.[9]

Die Diskussion dient lediglich der Manipulation.

„Jedes Argument ist auf die Absicht zugeschnitten, unbekümmert um Stichhaltigkeit. Was der Kontrahent sagt, wird kaum wahrgenommen; allenfalls, damit man mit Standardformeln dagegen aufwarten kann. Erfahrungen will man nicht machen, wofern man sie überhaupt machen kann. Der Diskussionsgegner wird zur Funktion des jeweiligen Plans.“[10]

Entweder gelingt es, ihn zur Solidarität zu zwingen, oder er wird vor den Anhängern diskreditiert. Gibt der Kontrahent nicht nach, dies erfährt unter anderem Adorno am eigenen Leib, indem seine Lehrveranstaltungen zu teach-ins umfunktioniert werden, und er selbst ohne besonderes Zutun sich in einen Gegner verwandelt, wird er disqualifiziert:

Er wird „des Mangels eben der Eigenschaften bezichtigt, welche von der Diskussion vorausgesetzt würden. Deren Begriff wird ungemein geschickt so zurechtgebogen, daß der andere sich überzeugen lassen müsse; das erniedrigt die Diskussion zur Farce. Hinter der Technik waltet ein autoritäres Prinzip: der Dissentierende müsse die Gruppenmeinung annehmen. Unansprechbare projizieren die eigene Unansprechbarkeit auf den, welcher sich nicht will terrorisieren lassen. Mit all dem fügt der Aktionismus in den Trend sich ein, dem sich entgegenzustemmen er meint oder vorgibt: dem bürgerlichen Instrumentalismus, welcher die Mittel fetischisiert, weil seiner Art Praxis die Reflexion auf die Zwecke unerträglich ist.“[11]

Diskutierende Öffentlichkeit, der es darum geht, Intentionen und Argumente ineinandergreifend auszutauschen, wird sich in einer solchen Situation zweifellos nur schwer durchsetzen können.

​[1] Negt, Oskar: Rechtsordnung, Öffentlichkeit und Gewalt. In Politik als Protest, aaO, Seite 114
[2] Artikel>01.11.1967>>Neue Kritik: „Resolution zum Kampf gegen Manipulation und für die Demokratisierung der Öffentlichkeit “ (22. Delegiertenkonferenz SDS 03.09.1967)
[3] Flugblatt>02.06.1967>>Studentenparlament: Demonstration Schah – Besuch
[4] Flugblatt>19.06.1967>>AStA „Notstandswoche“
[5] Neue Kritik: November 1967, Heft 44, S. 15 – 28
[6] Artikel>01.11.1967>>asta-information: „Liste 9 – Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS)“
[7] Flugblatt>04.07.1968>>Basisgruppe Walter Benjamin Institut: Gegenvorlesung zur Vorlesung Stern
[8] Artikel>26.04.1969>>Die Welt: „Wie konnte ich das ahnen…“
[9] Sekundärliteratur>01.06.1969>>Aufsatz Adorno: Marginalie 7 zu Theorie und Praxis (Das falsche Primat der Praxis)
[10] Sekundärliteratur>01.06.1969>>Aufsatz Adorno: Marginalie 7 zu Theorie und Praxis (Das falsche Primat der Praxis)
[11] Sekundärliteratur>01.06.1969>>Aufsatz Adorno: Marginalie 7 zu Theorie und Praxis (Das falsche Primat der Praxis)

Zum Problem Öffentlichkeit – Wolfgang Streeck im Diskus