Oskar Negt, SDS

Oskar Negt (1934-2024) ist von 1964 bis 1970 bei der Johann Wolfgang Goethe-Universität Assistent von Habermas. Zunächst ist er dem Philosophischen Seminar zugeordnet. Mit Gründung des Soziologischen Seminars im Jahr 1966 wechselt er mit Habermas in diese Betriebseinheit. (Siehe hierzu ein Interview mit Negt)

Seit 1956 ist Oskar Negt Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). In dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Die Linke antwortet Jürgen Habermas“ (1968) greift er Habermas an, der die Aktionen des SDS als „linksfaschistisch“ brandmarkt.

Am 2. Februar 2024 ist Oskar Negt verstorben – Nachrufe

Oskar Negt

In ihrer Ausgabe vom 3. Februar 2024 titelt die TAZ: „Keiner hat die Kreativität und den historischen Optimismus der Neuen Linken so verkörpert wir er. Zum Tod des Soziologen und Philosophen Oskar Negt.“ – Zitat: „Sein Werk spiegelt diese Erfahrung wider. Es ist durchzogen von historischem Optimismus, nie naiv, immer materialistisch begründet. Es verströmt ein ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschlichen. Es gibt immer eine Lösung. Oskar Negt ist am Freitag mit 89 Jahren gestorben.“

Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet in ihrer Ausgabe vom 2. Februar 2024 Oskar Negt als Träumer, Denker und Kämpfer in einem. Für Ulrike Meinhof sei er „das Schwein“, für den Rebellen Joschka Fischer ein Mentor gewesen.

Für die FAZ (Ausgabe vom 5. Februar 2024) ist er ein Denker im öffentlichen Dienst :

„Oskar Negt gehörte zu den wichtigen politischen Intellektuellen der Bonner Bundesrepublik. Seine Zeit größter Wirkung lag in den Siebzigerjahren, nachdem sich der „58er“ (wie er sich nannte) als Mentor der antiautoritären Protestbewegung bereits um 1968 einen Namen gemacht hatte. Nach dem Zerfall des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) galt er als Vordenker der Neuen Linken. Dass er Soziologieprofessor wurde, überraschte ihn selber, der sich eher in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit gesehen hatte. Seine ostpreußische und bäuerliche Herkunft war zwar bekannt, über seine lebensgefährliche Flucht als Kind aus Königsberg gegen Kriegsende sprach er jedoch erst nach 1990 öffentlich. In seiner Autobiographie „Überlebensglück“ (2016)

Oskar Negt

kann man nachlesen, wie er sein Haus verlor und lernte, Wissensvorräte anzulegen. Protestantische Arbeitsethik und kantische Gewissenhaftigkeit schienen ihm offenkundig in die Wiege gelegt. Negt studierte ab 1958 in Frankfurt bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Philosophie und Soziologie. Kritische Theorie bedeutete für ihn die Anmaßung, auf die gesellschaftliche Totalität zu zielen und dabei dialektisch vorzugehen, also in jedem einzelnen Phänomen das Allgemeine zu entschlüsseln. Dabei zeichnete Negt ein für Frankfurter Verhältnisse eigentümliches Verhältnis zur Praxis aus: Er war ein Praktiker der kritischen Theorie, die er lieber kleinschrieb. Denn zur „Frankfurter Schule“ zählte er nicht nur seine Frankfurter Lehrer, sondern die ganze Tradition der von Kant und Marx herkommenden kritischen Tradition im zwanzigsten Jahrhundert, von Karl Korsch über Wolfgang Abendroth, den linkssozialistischen europäischen Genossen, bis hin zu Jürgen Habermas, mit dem ihn ein besonderes Verhältnis verband. In Frankfurt war Negt Assistent von Habermas, und zwar einer, der mit seinem Chef öffentlich abrechnete, als dieser mit Bezug auf die SDS-Aktivisten von „Linksfaschismus“ und „Kinderrevolution“ sprach. „Die Linke antwortet Jürgen Habermas“

Oskar Negt

war ein von Negt organisiertes Buch betitelt, für das er sich später entschuldigte. Das bedeutete den Bruch zwischen Habermas und der Neuen Linken, nicht aber mit Negt, der jedoch ebenfalls klare Worte nicht scheute, als er 1972 auf einem Solidaritätskongress für Angela Davis erklärte, dass die RAF von Sozialisten keine Solidarität zu erwarten habe. Im militanten Frankfurter Milieu brauchte es dazu Mut, aber Kritik der Gewalt war für Negt von der Kritik der „zweiten Restauration“ nicht zu trennen. Überraschend wurde er Professor – ein Radikaler, kein Extremist, im öffentlichen Dienst. Der niedersächsische Kultusminister Peter von Oertzen baute in jenen Jahren die „rote“ Fünfte Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften auf und berief einen Frankfurter nach dem anderen an die Technische Hochschule, die zu einer Uni ausgebaut wurde. Negt brachte seine Frankfurter SDS-Gruppe mit. Der Versuch, Marx wissenschaftlich in die Bundesrepublik einzubürgern, gelang zwar, doch den Anspruch der Kritischen Theorie, mehr als eine akademische Angelegenheit zu sein, konnte „Hannover“ nicht erfüllen. Die Fünfte Fakultät galt bald als fünftes Rad am Wagen, insbesondere im Deutschen Herbst. Aber Negt reüssierte als politischer Intellektueller und Orientierungsfigur der zerfallenden Achtundsechziger-Bewegung. In Zeiten der Tendenzwende bekannte er sich zum Sozialismus, wobei Sozialismus Selbstbestimmung und -verwaltung bedeuten sollte, von unten nach oben organisiert. Er selbst gründete mit anderen Eltern die antiautoritäre Glockseeschule, die bis heute besteht. Sein Sozialismus zielte nicht auf die Eroberung der Macht im Staat, sondern auf die Generierung von Erfahrungen und Lernprozessen im Geiste der Selbstbestimmung durch Gegenöffentlichkeit und Demokratisierung der Alltagswelt. Seit er 1961 aus der SPD ausgeschlossen worden war, stand Negt den Parteien fern, auch als während der Gründungsphase der Grünen Rudi Dutschke ihn für dieses Projekt gewinnen wollte. Negt war keineswegs antiparlamentarisch eingestellt, sah Demokratie aber zuerst als Lebensform. Seine politische Heimat war das Sozialistische Büro in Offenbach, das er als Ort des „überfraktionellen Bewusstseins“ der sich zersplitternden Protestbewegung bezeichnete. Von großer Bedeutung und beflügelnd war für Negt die schriftstellerische Kooperation mit Alexander Kluge. Daraus entstanden drei Bücher, zwei davon mit Titeln, die den Zeitgeist spiegeln: „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (1972) und „Geschichte und Eigensinn“ (1981). Diese Theorieschinken – das zweite umfasst tausenddreihundert Seiten – wurden zu Kultbüchern für die undogmatische und doch an Marx interessierte, meist im Kulturbereich aktive Szene; und die Zusammenarbeit mit Kluge ging weiter, als diese Szene sich bereits aufgelöst hatte. Die mit Gerhard Schröder, dem einstigen Hannoveraner Juso-Vorsitzenden, blieb indessen Episode. Angesichts der Hartz- 4-Reform für den Arbeitsmarkt legte der intellektuelle Ratgeber der Gewerkschaften seine Beratertätigkeit für den Kanzler nieder. Negt schätzte seine Rolle als unbotmäßiger Zeitgenosse. „Keine Demokratie ohne Sozialismus“ hieß sein Credo in den Siebzigern, als die CDU/CSU „Freiheit statt Sozialismus“ propagierte. Der Umkehrschluss „Kein Sozialismus ohne Demokratie“ blieb für die Linken in Deutschland, die wie er beharrlich dicke Bretter bohrten, ein Leitmotiv. Am vorigen Freitag ist Oskar Negt im Alter von 89 Jahren in Hannover gestorben. Jörg Später.“

Auch der Bundespräsident würdigt das Schaffen Oskar Negts

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 3. Februar Christine Morgenroth-Negt zum Tod ihres Mannes Oskar Negt kondoliert. Der Bundespräsident schreibt:

„Unser Land hat einen großen Sozialwissenschaftler und politischen Intellektuellen verloren. Oskar Negt war ein kritischer Soziologe und Philosoph, ein hellsichtiger Diagnostiker der Gesellschaft, der schon früh erkannte, dass wir über Bildungsgerechtigkeit, über Arbeit und menschliche Würde, über Gemeinsinn und Verantwortung reden müssen, wenn wir unsere Demokratie bewahren wollen. Er war zugleich ein engagierter Bürger und Publizist, der die öffentlichen Debatten und das demokratische Denken in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg geprägt hat. Oskar Negt steht für ein glanzvolles Kapitel deutscher Geistes- und Kulturgeschichte. Er studierte in Frankfurt am Main bei Max Horkheimer, promovierte bei Theodor W. Adorno, arbeitete als Assistent von Jürgen Habermas, war eine wichtige Stimme der Außerparlamentarischen Opposition, schrieb und diskutierte mit Alexander Kluge – und wirkte dreißig Jahre lang als Professor für Soziologie in Hannover, bis zuletzt inspiriert von Immanuel Kant und Karl Marx. Eine solche Laufbahn war ihm nicht in die Wiege gelegt. Er wurde als Sohn eines Kleinbauern in Ostpreußen geboren, flüchtete gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westdeutschland und erarbeitete sich das, was man einen ‚Aufstieg durch Bildung‘ nennt. Seine Herkunft hat er dabei nie vergessen: Zeitlebens fühlte er sich den Gewerkschaften verbunden und engagierte sich in der Erwachsenenbildung. Dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, die ‚immer wieder, tagtäglich, ein Leben lang‘ erlernt werden muss, darauf hat Oskar Negt unermüdlich hingewiesen. Er hat vielen Menschen in unserem Land geholfen, zu mündigen, aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern zu werden. Und er hat, nicht zuletzt, Bewusstsein dafür geweckt, dass die Demokratie nicht einfach nur eine Machttechnik ist, sondern eine Lebensform: Sie braucht Menschen, die sich um das Gemeinwesen kümmern und Verantwortung für andere übernehmen – in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule oder im Beruf. Oskar Negt hat sich bis ins hohe Alter hinein um die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft verdient gemacht. Heute, in dieser Zeit der Krisen und Veränderungen, ist seine Idee von der sozialen Verantwortung des politischen Menschen aktueller und wichtiger denn je. Oskar Negt fehlt unserem Land. Aber sein demokratischer Geist lebt weiter, wo immer Freiheit und Demokratie mutig und entschlossen verteidigt werden.“

Oskar Negt

Die Würdigung von Thomas Schmidt

Thomas Schmidt bezeichnet Negt als den schwarzen Schwan der Frankfurter Schule. Zitat:

Seine nicht-bürgerliche Herkunft bewahrte Negt vor einem sich selbst in Rage denkenden und redenden Radikalismus, der Ende der 60-er Jahre unter jungen Bürgerkindern Mode wurde. Oskar Negt war geerdet. Als die RAF mordete und auch dann noch Sympathien auf sich zog, verurteilte er sie harsch, wozu damals im linken Milieu Mut gehörte. Sprachliche Raffinesse lag ihm so wenig wie das Spiel der Paradoxe. Er verstand den Marxismus zuvörderst als ein materialistisches Denken, die Arbeit stand – ganz traditionell – immer im Mittelpunkt. Er ging den gewerkschaftlichen, den reformerischen Weg. Nicht Revolutionärer Kampf, sondern Sozialistisches Büro. Nicht Propaganda der Tat, sondern Bildungsarbeit. Viele kleine, unscheinbare Schritte, nie Resignation.“

Oskar Negt

Oskar Negt sieht sich rückschauend nur als harmloser Mentor der Aktivisten

In seiner Selbsteinschätzung bestätigt Negt ausdrücklich, er habe im Verlauf der Auseinandersetzungen die Rolle eines Mentors der Aktivisten eingenommen. Aktiv habe er die Ereignisse begleitet, habe Anregungen gegeben und sich in die politischen Debatten eingemischt. Er habe sich bemüht, strategischen Perspektiven praktikabel zu machen. In dieser Situation sei er ein erfahrener Berater und Mahner gewesen. Durch seine öffentliche Parteinahme für die rebellierenden Studenten habe erAutorität gewonnen, die es ihm ermöglichte, Kritik zu üben, ohne ausgegrenzt zu werden. Siehe im Detail hierzu: Oskar Negt, Achtundsechzig, Politische Intellektuelle und die Macht, 1. Auflage, 1995, S.11f.

Im Verlauf der Auseinandersetzungen am Soziologischen Seminars ist die Rolle Negts als Mentor, der aktiv die Ereignisse begleitet und anregt, unübersehbar schwierig und heikel, denn ihm geht es auch darum das Soziologische Seminar und das Institut für Sozialforschung zu schützen. In seinem folgenden Bericht gesteht er, er habe vor der Institutsbesetzung nur in privaten Gespräche gewarnt, habe aber diese Warnungen nicht öffentlich gemacht. Das sei einer seiner größten Fehler und Fehleinschätzungen in dieser Zeit gewesen. Es sei nicht auszuschließen, dass er doch hätte Einfluss nehmen können. In dem folgenden Bericht schildert er anschaulich seine prekäre Lage:

„Im vollbesetzten Hörsaal VI der Frankfurter Universität halte ich , auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten, die mehrere Semester lang an meinen Übungen über Kant, Fichte, über die rationalen Naturrechtstheorien von Hobbes, Locke, Rousseau teilgenommen haben, im Wintersemester 1968/69 eine Vorlesung über Lenins »Staat und Revolution«; die Veranstaltung ist nach allen Seiten hin gut vorbereitet, mit zahlreichen Referatsangeboten, Literaturlisten, kontinuierlicher Teilnahme und großer Diskussionsbereitschaft – eine nach meinem Gefühl geglückte Verbindung von politischer Versammlung und akademisch- wissenschaftlichem Diskurs, so wie ich es die ersten sechs Wochen wahrnehmen kann. Alle, die etwas zu sagen haben, sind anwesend: Krahl; die Lederjackenfraktion immer in der zweiten Reihe direkt vor mir sitzend; Cohn-Bendit ganz hinten oben rechts, mit günstigem Überblick. Plötzlich taucht, jedoch eindeutig noch im Kontext der Leninschen Theorie der Sowjets, das Wort »Institutsbesetzung<< auf. Als Beispiel für »gegenstandskonstitutive Praxis«, wie Krahl das formuliert, was so viel bedeutet wie: Selbstbestimmung über Zeit und sinnlich unmittelbare Verfügung über Räume, in denen die Menschen arbeiten, verändern auch die Gegenstände, mit denen sie umgehen. Erst nach gut einer Stunde theoretisch äußerst spannender Diskussion fällt das Stichwort »Institut für Sozialforschung« in einem Erläuterungszusammenhang, der Horkheimers Begriff des autoritären Staates betrifft. »Warum sollen wir es nicht besetzen«, ruft einer der Teilnehmer in den Hörsaal, »und das, was wir hier erarbeitet haben, praktisch ausprobieren. Das liegt doch nahe. »Was liegt nahe?« erwidere ich etwas verdutzt. >>Es ist doch auch EUER Institut.« Grölendes Gelächter schallt mir entgegen; von dem Augenblick an läuft überhaupt nichts mehr in dieser Veranstaltung, was mit einer Lenin-Vorlesung zu tun hat. Alles ist auf den neuen Interessenschwerpunkt »Institutsbesetzung« konzentriert, ja beim Reden richten sich die Blicke in dem fensterlosen Hörsaal auf das Institut, das eine Straße weiter in der Senckenberganlage liegt; das in die Besetzungsabsicht eingeschlossene Soziologische Seminar in der Myliusstraße ist in gerader Linie einige Straßen dahinter zu finden. Man sieht ihnen buchstäblich an, wie sie mit ihren Gedanken bei dieser Sache sind: Das Leuchten in ihren Augen verweist deutlich auf die Vorlust ihrer Vatermordplanungen, wobei freilich von einzelnen der Verdacht geäußert wird, die Aktion könne ohne jede Konfrontation mit der zu besetzenden Institution, also ins Leere laufen. Obwohl ich eine Ahnung davon habe, daß hier mehr verhandelt wird, als die offen thematisierten Gegenstände es nahelegen – zum Beispiel Beteiligungsregelungen in den akademischen Gremien, Mitbestimmung über Forschungsplanung und Lehrveranstaltungen – , ist mir der Ernst der Lage nicht klar; auch der Schaden, der durch dieses Besetzungsabenteuer der linken Hochschulpolitik zugefügt wird, ist für mich unmittelbar nicht erkennbar. Ich habe die Institutsbesetzung zwar nicht befürwortet, aber auch die privaten Gespräche, in denen ich davor warnte, nicht öffentlich gemacht. Das war einer meiner größten Fehler und Fehleinschätzungen in dieser Zeit. Es ist nicht auszuschließen, daß ich doch hätte Einfluß nehmen können; denn als ich merkte, daß es nicht um Mitbestimmung ging, daß die Forderungen, die mit Drittelparität eingesetzt hatten, mit Halbparität fortgesetzt und schließlich bis zur unerfüllbaren Bedingung eines zusätzlichen autonomen Haushaltsbereichs (der in völliger Verfügung der Studenten stehen sollte) ausgedehnt wurden, war es zu spät. Was hier und in manchen anderen Fällen abgelaufen ist, hat offensichtlich den sozialpsychologischen Grund, in einer Institution, die nur über das sehr schwache Instrument des Hausrechts verfügt, Widerstand zu provozieren, der für die eigenen Orientierungen und Verhaltenssicherheiten dringend benötigt wird – was übrigens unter dem Gesichtspunkt der provozierten Grenzverletzungen, welche die Gegenstandslosigkeit der Wünsche aufleben und wirkliche Reibungsflächen schaffen sollten, beinahe schief gelaufen wäre. Erst später habe ich erfahren, daß der Polizeieinsatz, den die Studenten erwartet und wohl auch gewünscht hatten, keineswegs gesichert gewesen ist und daß das Institut am Besetzungstag mit einem Schlüssel geöffnet wurde, nicht wie üblich in solchen Fällen mit Gewalt, wobei der teilweise heftige, ja feindselige Streit darüber, wer den Studenten den Schlüssel zugesteckt oder die Institutstür vorsorglich geöffnet habe, zwischen zwei ehemaligen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung bis Ende der siebziger Jahre geführt wurde (noch im Starnberger Institut war das, wenn der Wein floß, Gegenstand bitter-ernster Kontroversen). Wie in vielen anderen Fällen haben auch in diesem Fall die Studenten selbst dazu beigetragen, daß mit solchen Aktionen die Medien noch zwanzig Jahre später Stoff genug für ausschmückende Berichte auf dem Niveau des Studentenulks haben, wie über jenen Vorfall, als Schüler das Rektorat der Johann Wolfgang Goethe-Universität besetzten, und  unbekömmliche Rektoratszigarren rauchten und; mit Ordinarienbarett und Talaren bekleidet, die anrüchige Kaiserstraße herunterradelten, wohl um auszuprobieren, wie weit ihre Allmachtsphantasien wirklich reichen.

Oskar Negt, Achtundsechzig, Politische Intellektuelle und die Macht, 1. Auflage, 1995, Seite 177ff.

Oskar Negt als Unterstützer der gewaltbereiten Aktivisten

Allerdings wäre es ein Fehler, sich ausschließlich auf die oben zitierte Rückschau Negts zu verlassen. In Wirklichkeit ist er nicht nur neutraler Mentor, sondern auch Anstifter. Seine Einbindung als lehrender Assistent in das Soziologische Seminar mit vielfältigen Kontakten und Informationsmöglichkeiten erleichtern ihm diese Unterstützung seiner Freunde und Genossen. Mittelbar ermutigt er sie, innerhalb der Hochschule Unruhe zu stiften, indem er deren Aktionen verharmlost und gut heißt. So betont er 1968 in einem Essay, das im Kursbuch veröffentlicht ist wörtlich:

Als Jürgen Habermas die hypothetische Formel vom ‚linken Faschismus‚ gebrauchte, wollte er vor einer selbstzerstörerischen, vom System leicht integrierbaren Formalisierung der provokativen Gewaltanwendung warnen; wie sich heute übersehen läßt, ist der überwiegende Teil der Aktionen der studentischen Protestbewegung gerechtfertigt durch das, was er in derselben Rede keinen Zweifel ließ: daß die ‚demonstrative Gewalt‚ zu Erzwingung einer von politischen Aufklärungsinteresse bestimmten Öffentlichkeit auch die Verletzung repressiv gewendeter Regeln einschließen kann.

Oskar Negt, Studentischer Protest -Liberalismus, in Kursbuch Nr.13, 1968

In dieser Phase folgt er noch der Idee der Einheit von Theorie und Praxis, die in der Organisation der revolutionären Aktionen realisiert wird:

„Die formal-demokratische Absicherung und Sanktionierung dieser Gewaltverhältnisse machen es für die antiautoritäre Protestbewegung zur Notwendigkeit, flexible Strategien organisierter Gegengewalt zu entwickeln, die nicht zuletzt den Sinn haben, gefährliche Ohnmachtsreaktionen einzelner besser zu kontrollieren und zu verhindern, daß Demonstranten wehrlos zusammengeschlagen werden. Weil die technologisierte Repressionsapparatur der spätkapitalistischen Klassengesellschaften ebenso stark ist wie ihre historische Legitimationsgrundlage sich als schwach und brüchig erweist, ist die organisierte Gegengewalt unabdingbar an die Prinzipien von Öffentlichkeit und Aufklärung gebunden. Und weil Gegengewalt als ein durch demokratische Ziele legitimiertes Mittel, bestehende Gewaltverhältnisse zu zerbrechen, wesentlich von der Lösung der Organisationsfrage abhängt, bedarf die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis eines Höchstmaßes an theoretischer Reflexion und an differenzierter Analyse der Gesellschaft, um die Risiken und den Umkreis der politischen Wirksamkeit jeder einzelnen Aktion genau abschätzen zu können. Bloße Symbolhandlungen, die leichtfertig das Risiko von Menschenverletzungen einkalkulieren, gefährden eine Strategie, in der die Politisierung der Öffentlichkeit als notwendiges Medium einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft begriffen wird; aber die Auslieferungsblockaden von Springer-Zeitungen waren keine Symbolhandlungen, sondern der spontane und manifeste Ausdruck des praktischen Widerstandes gegen einen Meinungskonzern, mit dem keine genuin demokratische »Bewegung« in dieser Gesellschaft auf die Dauer koexistieren kann.“

Oskar Negt, Rechtsordnung, Öffentlichkeit und Gewalt, erschienen in „Die Auferstehung der Gewalt – Springerblockade und politische Reaktion in der Bundesrepublik“, herausgegeben von Heinz Grohmann und Oskar Negt, Europäische Verlagsanstalt, 1968

Oskar Negt verharmlost die Gewaltanwendung der Aktivisten

Harmlose Unterbrechungen einer Vorlesung, Verletzungen vergänglichster Satzungsbestimmungen, Störungen des Straßenverkehrs und des »Messefriedens«: was immer geschieht, es wird unabhängig von inhaltlicher Zweckbestimmung zur Verletzung von Menschenrechten aufgewertet und zu einer das System treffenden Einbruchstelle des Rückfalls in Barbarei, Anarchismus und Faschismus. Schon durch ihre Formen von Öffentlichkeit werden die Studenten zu Terroristen, die zu bekämpfen legitimer Gegenterror ist. Und da der »Linksfaschismus« eben das Problem der herrschenden Klassen und Bürokratien unserer Gesellschaft und nicht der Studenten ist, brauchen die einzelnen Ereignisse gar nicht erst abgewartet zu werden. Ein beabsichtigtes »go-in« in der Vorlesung eines Ordinarius und Bundesministers, von dem man öffentlich Auskunft über seine Stellung zur Notstandsgesetzgebung verlangt, wird nach dem gleichen Schema des »faschistischen Terrors« interpretiert wie die Steinwürfe törichter Einzelgänger, die Sachbeschädigungen zur Folge haben.“

Oskar Negt, Rechtsordnung, Öffentlichkeit und Gewalt, erschienen in „Die Auferstehung der Gewalt – Springerblockade und politische Reaktion in der Bundesrepublik“, herausgegeben von Heinz Grohmann und Oskar Negt, Europäische Verlagsanstalt, 1968

Oskar Negt aus der Sicht von GERD KOENEN

„So laufen die »im Zorn und gegen das Vergessen« geschriebenen Texte des früheren Habermas-Assistenten und Bewegungs-Mentors Oskar Negt auf den Versuch hinaus, ein mythisiertes »Achtundsechzig« mit seinem reinen, erzdemokratischen und antiautoritären Spirit auf Flaschen zu ziehen und kategorisch zu trennen von fast allem, was dann daraus hervorging – den sogenannten »K-Gruppen« zum Beispiel. Über deren Geschichte auch nur zu reden ihm (Negt) »völlig anachronistisch und von keinerlei politischer Dringlichkeit« erscheint.“

GERD KOENEN DAS ROTE JAHRZEHNT, UNSERE KLEINE, DEUTSCHE KULTURREVOLUTION, 1967-1977, 2. Auflage, 2001, S.30

Ähnliche Überlegungen waren in nahezu allen SDS-Gruppen im Schwange. Oskar Negt als »Mentor« der Frankfurter SDS-Zentrale entwickelte ein postleninistisches Gesamtmodell der »informellen Kader«, die in allen gesellschaftlichen Bereichen tätig werden sollten. Andere entwickelten universelle Vernetzungsvorstellungen mit Dutzenden Sekretariaten, Kommissionen und bezahlten »Reisekadern«.

Die gefährliche Ideologie Negts

In einem 1968 gehaltenen Vortrag über die „Die Neue Linke und die Institutionen“ formuliert er einige gewagte Thesen, welche die studentischen Rebellen sicherlich zu Taten ermutigen:

  • Die Ideologie des Antikommunismus der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft wirkt als materiellen Gewalt nach. Sie reduziert die im Grundgesetz vorgesehene Realisierung demokratischer Freiheitsrechte auf einen Mechanismus der bloßen Identifikation mit den bestehenden Verfassungsinstitutionen und mit den jeweils gegebenen gesellschaftlichen Zuständen.
  • Die spätkapitalistische Gesellschaft ist mit ihrem staatlichen Gewaltmonopol notwendigerweise gewalttätig.
  • In der Regel werden überfällige Demokratisierungsprozesse mit institutioneller Gewaltanwendung blockiert.
  • Die Neue Linke hat erkannt, dass es in hochindustrialisierten Gesellschaften Machtergreifungen im politischen Herrschaftszentrum, sei es durch Wahlen, sei es durch einen einzelnen revolutionären Akt, nicht mehr geben kann.
  • Sie begreift die grundlegende Veränderung dieser Gesellschaft als einen sozialrevolutionären Prozess, in dem organisierte Selbsttätigkeit der Menschen immer mehr gesellschaftliche Bereiche der Verfügungsgewalt durch privatkapitalistische Verwertungsinteressen und Bürokratien entzieht.
  • Das Ziel einer solchen Praxis kann deshalb nicht darin bestehen, ein politisches Herrschaftssystem durch ein anderes zu ersetzen, sondern politische Herrschaft selber und dadurch gleichzeitig Politik als eine von den gesellschaftlichen Lebenserscheinungen getrennte Sphäre abzuschaffen.
  • Denn in ihr wirken »verantwortlich« manipulierende Eliten, die weitgehend unkontrolliert Entscheidungen vorbereiten und treffen, die in der Regel nur noch Akklamationen des Wahlvolks zulassen. Solange es professionelle Politiker gibt, gibt es entpolitisierte Massen und damit politische Herrschaft

Der Sozialrevolutionär Negt und seine Kaderidee,
um eine klassenkämpferische Arbeiterschaft zu organisieren

Seine sozialrevolutionären Ideen präsentiert Negt zudem in einem Aufsatz vom 1969 unter dem Titel „Spontaneität und Kaderorganisation“ seinen Studenten und der Öffentlichkeit (veröffentlicht im Magazin „Konkret“ unter der Nr. 15). Entscheidend ist für ihn – und damit auch seine Kampfgenossen -, dass es gelingt, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse durch Aktionen zu verändern. Nach seiner Auffassung ist Spontaneität hierfür nicht hinreichend. Vielmehr müssen informelle Kader den Klassenkampf organisieren.

  • Wer sozialrevolutionäre Programme für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, der ersten durchgängig bürgerlich-kapitalistischen Demokratie auf deutschem Boden, formulieren und realisieren will, muss Strategien und Organisationsformen entwickeln, die sich an Kriterien des politischen Reifegrades des aktuellen Klassenkampfes bemessen, und an die Konflikte der existierenden Gestalt des Klassen.
  •  Die gegenwärtige Krise der Neuen Linken kann nicht ausschließlich als das Produkt des wachsenden Einsatzes der Machtmittel des autoritären Staates gegen störende Oppositionsbewegungen verstanden werden. Dieser Einsatz war zu erwarten. Er konnte Überraschung und Verwirrung nur bei denjenigen auslösen, die von dem als faschistisch denunzierten und bekämpften Staat insgeheim liberales Wohlwollen erwarteten.
  •  Die unkontrollierten Reaktionen auf die mittlerweile aufeinander abgestimmten Abwehrstrategien der politischen Exekutiven, der Hochschulbürokratien, der Polizei und der Justiz, weisen darauf hin, dass ein strategischer Plan für die institutionelle Sicherung von Rückzugspositionen ebenso fehlt wie für die Bestimmung realistischer offensiver Taktiken.
  •  Dieser Mangel entspringt theoretischen Missverständnissen und praktischen Fehleinschätzungen der bestehenden Machtverhältnisse, die auf zwei Ebenen den Übergang von der antikapitalistischen und antiautoritären Protestphase zur sozialistischen Politik behindern.
  •  Alle bisherigen Erfahrungen von gescheiterten und vorübergehend gelungenen revolutionären Veränderungen in Industriegesellschaften legen in der Tat die Vermutung nahe, daß über die Machtfrage in letzter Instanz nach wie vor im industriellen Produktionsbereich entschieden wird. Im Ernstfall kann sie auch nur von der Arbeiterschaft gestellt werden.
  •  Um so erstaunlicher ist die Feststellung, daß zu Erläuterungen von erfolgreichen Ansätzen einer derartigen Machtkampfstrategie Beispiele genommen werden, die, wie die Hochschulrevolte und die antiautoritären Kindergärten, gerade nicht der Produktionssphäre entnommen sind.
  • Vorübergehende Institutsbesetzungen und Belagerungen von Redaktionsräumen, die allenfalls sozialrevolutionäre Interessen und Ansprüche öffentlich anmelden. haben keine machtkampfstrategische Relevanz..
  • Entscheidend ist, ob eine Aktion oder Entscheidung die bestehenden Herrschaftsverhältnisse antastet oder unberührt lässt.
  • So entspricht eine mechanische Abfolge von Instituts- oder Universitätsbesetzungen und polizeilichen Räumungsaktionen den an eine sozialrevolutionäre Praxis gestellten Erwartungen weniger als die Erweiterung der Montan-Mitbestimmung, die, wenn sie schon· die Arbeitsplatzsituation des Arbeiters nicht verändert, wenigstens doch von den Unternehmern und den Industrieverbänden als empfindliche Einschränkung ihrer Entscheidungs- und Kontrollgewalt empfunden wird.
  • Wer sich in dieser Frage auf Lenin beruft, muß ihn völlig mißverstanden haben.
  • Die Machtfrage kann sich konkret nur in den Reifestadien von revolutionären Situationen und unter gesamtgesellschaftlichen Bedingungen stellen, unter denen Sieg oder Niederlage auf der Tagesordnung stehen. Es geht dann um die Fähigkeit und Entschlossenheit der Arbeiterklasse, das durch Selbstverwaltungsorgane und Massenstreiks ausgehöhlte Herrschaftssystem zu zerschlagen und den faktisch bestehenden Zustand einer Doppelherrschaft zu Gunsten der revolutionären Kräfte zu entscheiden.
  • Es gibt nicht die geringsten Hinweise dafür, daß die Machtfrage in diesem Sinne oder auch nur im Hinblick auf ein Anwachsen und eine zunehmende innere Stabilisierung der sozialrevolutionären Opposition in absehbarer Zeit in Westdeutschland an Aktualität gewinnen wird.
  • Wird diese Strategie mit klassentheoretischen Argumenten in Verbindung gebracht, gilt: es müssen schlagkräftige, durch Disziplin, Leistung und zentralisierten Organisationsaufbau ausgezeichnete Garden oder Ersatzparteien geschaffen werden, die den Auftrag erhalten, den Funken des revolutionären Klassenkampfes in die Betriebe zu tragen.
  • Eine »revolutionäre Massenorganisation« ist nicht das Ergebnis eines formalen , Gründungsaktes kleiner Gruppen von Linksintellekuellen. Vielmehr ist sie das Produkt von Massenspontaneität, die Lenin die »Embryonalform der Organisation« nennt.
  • Die Gefahr eines provinziellen Studentensozialismus kann nur durch die Politisierung der Arbeiterschaft überwunden werden.
  • Wenn es einen Emanzipationswillen der Arbeiter gibt, so kann man ihn am besten durch eine kompromißlose, kämpferische Haltung freisetzen.
  • Die mit einer strengen Kaderorganisation verbundene Hoffnung, den Klassenkampf in den Betrieben und am Arbeitsplatz aktiv führen zu können, wird durch die jüngsten Erfahrungen bestärkt. Ein Teil der durch die studentische Basisgruppenarbeit hindurchgegangenen Jungarbeiter sind zur DKP und zu deren Jugendorganisation, der SDAJ, abgewandert.
  • Soweit die Studenten eine »organisatorische Offensive in die Betriebe« planen, um eine langfristige sozialrevolutionäre Politisierung des Klassenkampfes zu erreichen, muss folgendes praktische Problem beachtet werden: Die Gewerkschaftsorganisationen und die SPD sorgen für eine entpolitisierten Massenloyalität. Damit gerät die Protestbewegung in eine Zwangslage, die mit ihrem Organisationsgrad nur wenig oder gar nichts zu tun hat: Auf der einen Seite sind es die stabilen kommunistischen Kader in den Industriebetrieben, die über eine kleine, aber feste Anhängerschaft verfügen und die sich durch konkrete Gewerkschaftsarbeit teilweise eine Vertrauensbasis in den Belegschaften geschaffen haben, auf die sie sich bei politischen Aktionen (etwa in der Notstandsopposition) und bei Streiks stützen können.
  • Unter diesen Umständen ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß die mit der radikalen Parole: Zerschlagt die Gewerkschaftsapparate! in die Betriebe eindringenden Kollektive studentischer Berufsrevolutionäre auf den entschiedenen Widerstand einer Einheitsfront von drei Seiten stoßen werden: den Betriebsbelegschaften, den KP-Kadern und den Gewerkschaften.
  • Wo sie ihre Agitation zwanghaft durch die rote Fahne und durch einen penetrant revolutionären Sprachgestus vermitteln wollen, wird ihr unverhülltes demonstrativ avantgardistisches Auftreten den Solidarisierungsdruck gegen die von außen kommenden Gruppen erhöhen. Die irrationalen Loyalitätsbindungen an die Gewerkschaftsapparate, durch deren Auflösung sich überhaupt erst realistische Chancen für eine sozialrevolutionäre Opposition der Arbeiter ergeben, würden eher vergrößert als zerstöret.Dies ist nicht nur ein Resultat der bürokratischen Manipulation, weswegen die Massen ihnen folgen. Sie ist gleichzeitig ein Zeichen ihres rückständigen Bewußtseins.
  • Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser spezifischen Beziehung zwischen den aus der Studentenschaft kommenden Kerngruppen des sozialrevolutionären Protestes und den politisierbaren, das heißt von der Organisationsfeindlichkeit bereits befreiten Teil der Arbeiterschaftfür die künftige Politik der Neuen Linken in Deutschland?
  • Ist also die Arbeiterklasse nicht mehr das historische Subjekt der Veränderung? Nein! Die zunehmende Verflechtung mit den anderen europäischen Ländern und die unvermeidliche Einbeziehung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft in den aktuellen weltgeschichtlichen Zusammenhang der Emanzipationsbewegungen der Dritten Welt schaffen objektive Bedingungen, unter denen auch hier sozialrevolutionäre Perspektiven den subjektivistischen Charakter des Utopischen und Voluntaristischen verlieren.
  • Die Neue Linke muß deshalb, um dem Schicksal einer machtpolitisch neutralisierten Randgruppe zu entgehen, begreifen lernen, daß eine Reihe von Besonderheiten in den Entwicklungsbedingungen der westdeutschen Gesellschaftsordnung die Formulierung von spezifischen Strategie- und Organisationsformen erzwingen.
  • Will die Protestbewegung ihre bisherige Befangenheit im Bezugssystem der Universität aufgeben und im Ernst eine klassenspezifische Aktions- und Aufklärungsstrategie für die Arbeiterschaft· entwickeln, so wird sich die Formulierung einer Doppelstrategie des sozialrevolutionären Reformismus, die auf die Organisationsform der informellen Kader gestützt ist, als notwendig erweisen.
  • Die Selbstvermittlung sozialrevolutionärer Forderungen innerhalb der Arbeiterklasse ist heute fragwürdig. immer deutlicher zeigt sich, daß im Rahmen der bestehenden Institutionen und Organisationen und mit den Mitteln der traditionellen Politik weder »historische Initiativen« (Marx) entwickelt, noch subjektiv unmittelbare Interessen der Menschen als kompromißlose Ansprüche an die Gesellschaft formuliert und praktisch vertreten werden können.
  • Die Grundfrage ist deshalb, wie der notwendig von außen kommende sozialrevolutionäre Protest in die Massenorganisationen der Arbeiterschaft eindringen kann.
  • Die Umsetzung einer sozialrevolutionären Doppelstrategie durch die flexible, ein Optimum von Spontaneitätselementen bindende Organisationsform der informellen Kader setzt eine Überwindung des naiven Verhältnisses zur Gewalt und ein differenziertes Einstellen auf die existierenden Formen des Arbeiterbewußtseins voraus.  

Nicht Propaganda der Tat, sondern Bildungsarbeit. Viele kleine, unscheinbare Schritte, nie Resignation.“