A. Begriffsbestimmungen des Faschismus
Der Begriff Faschismus bezeichnet politische Bewegungen und Herrschaftssysteme mit extrem nationalistischer, antidemokratischer und antirechtsstaatlicher Ideologie und autoritären Strukturen, die zwischen den beiden Weltkriegen entstanden, vor allem den deutschen Nationalsozialismus unter Adolf Hitler.
Diese Begriffsbestimmung ist allerdings nur eine Variante von zahlreichen anderen. So ist zum Beispiel für Wolfgang Wippermann der Faschismus die Bezeichnung für ein generisches, globales und Epochen übergreifendes politisches Phänomen, das es keineswegs nur in Deutschland und Italien, sondern auch in anderen Teilen Europas, Amerikas, Afrikas, Asiens und dem Nahen Osten gegeben hat – und immer noch gibt. Faschismus ist global und nicht nur Vergangenheit. Er stellt eine gegenwärtige und weltweite Gefahr dar
Die notwendige Definition des Begriffs „Faschismus“ ist also schwierig. Je nach politischer Einstellung wird er unterschiedlich verstanden – vor allem von denjenigen, die sich als Antifaschisten gerieren.
Man könnte zum Beispiel auf die Begriffsbestimmung von Ernst Nolte zurückzugreifen (Der Faschismus in seiner Epoche. Action francaise – Italienischer Faschismus – Nationalsozialismus. Piper, München 1963).
Faschismus aus der Sicht Noltes
Ernst Nolte nennt als Merkmale des Faschismus den Antimarxismus, Antiliberalismus, Nationalismus, Einsatz von Gewalt und Propaganda. Hinzutreten können Rassismus und Antisemitismus.
Jedenfalls gilt Benito Mussolini als Erfinder des modernen Faschismus.
„Fascio meint einfach eine Gruppe junger Menschen und eine Kampftruppe. Beginnend mit Bauernbünden im Sizilien des späten 19. Jahrhunderts wurde er populär. Nach dem Ersten Weltkrieg ‚fasci di combattimento‘, also kleine Kampftrupps, die im Wesentlichen extrem nationalistisch ausgerichtet waren und gegen die Arbeiterbewegung gekämpft haben.
Das hat Mussolini aufgegriffen, der selber nicht dort Mitglied war, der aber auf seinem Weg zur Macht gesehen hat, dass er seine breit gelagerte politische Bewegung buchstäblich schlagkräftig machen kann, wenn der diese ‚fasci di combattimento‘ in seine Bewegung einordnet, und deswegen nannte er das dann Faschismus.“
Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus sind Prototypen der „Massenbewegungen mit charismatischen Führern“, die den modernen Faschismus kennzeichnen.
Es gilt die folgende Feststellung von Madeleine Albright (Faschismus – Eine Warnung, Dumont Verlag, 2018, Seite 21):
Für sie ist also ein Faschist jemand, der sich stark mit einer Gruppe identifiziert, den Anspruch erhebt, in deren Namen zu sprechen, und der gewillt ist, zur Erreichung seiner Ziele jedes Mittel zu ergreifen, einschließlich der Gewaltanwendung.
Diese pragmatische Definition ist sicherlich geeignet, einige Aktionen im Verlauf der Unruhe zuzuordnen.
B. Die Verwendung der Begriffs Faschismus und Antifaschismus im Verlauf der Unruhen
Der Kampfbegriff Antifaschismus
Die Begriffsbestimmung wird noch unübersichtlicher und schwieriger, wenn untersucht wird, was diejenigen meinen, die mit dem Kampfbegriff „Antifaschismus“ hantieren. Es ist verführerisch, den politischen Gegner zu stigmatisieren, indem er plakativ und pauschal als Faschist diffamiert wird und sich gleichzeitig als Antifaschist zu adeln. Beliebt ist beispielsweise folgende Argumentation: Kapitalismus ist faschistisch. Ich bin gegen den Kapitalismus wahlweise gegen den Monopolkapitalismus . Also bin ich ein Antifaschist.
Auch der Rektor kann der Verlockung nicht widerstehen, die Gegenseite zu diffamieren
Im Zusammenhang mit der Vorlesungsstörung von Carlo Schmid bezeichnet er den SDS, der die Aktionen steuert als faschistisch:
„Wer vom KAPITALISMUS nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ –
(Die Juden und Europa. In: Studies in Philosophy and Social Science, Band 8. The Institute of social research, New York 1939, S. 115)
Dieser Satz Horkheimers hat für den SDS im universitären Agitationskampf eine zentrale Bedeutung. Der Kapitalismus ist für ihn nicht mehr nur potentiell faschistisch, sondern er befindet sich schon in der aggressiven Phase des offenen Faschismus, dessen Handlanger unter anderem die Universitätsbürokratie ist. Gewaltfreier Widerstand reicht nicht mehr aus. Logischerweise muss diese faschistische Gewalt mit Gegengewalt beantwortet werden.
Besonders plakativ äußert sich der SDS in einem Flugblatt vom 01.05.1969:
690501_Flugblatt_SDS_Wer-hat-uns-verraten-SozialdemokratenIn der Rückschau kritisiert Negt zu Recht die Schlichtheit dieser Argumentation, an der er jedoch seinerzeit selbst mitgewirkt hat (Negt, Oskar, Politische Intellektuelle und die Macht, Achtundsechzig,1996, Seite 248):
„Im Operieren mit dem globalen Faschismusvorwurf steckt ein Zentralproblem der Linken in dieser Zeit. Die Leichtfertigkeit, mit der unangenehme Entwicklungen, staatliche Eingriffe, Rechtsentscheidungen das Entwertungsetikett »faschistisch« aufgedrückt bekamen, widersprach dem wissenschaftlichen Selbstanspruch, historisch geprägte Gesellschaftsformen nicht miteinander zu verwechseln. Die Neigung, in der öffentlichen Agitation mit der Faschismusformel zu hantieren, um sich Beifall zu verschaffen, ist mir selbst, wie ich gestehen muß, nicht fremd gewesen. [….} Es wäre jedoch völlig verfehlt, diesen agitatorischen Gebrauchswert der Faschismusformel mit dem Skeptizismus zu verwechseln, der sich auf das prekäre Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie richtet.“
Offensichtlich bezieht sich dieses Eingeständnis Negts rückschauend auf seine emotionale Rede vom 13.04.1968 (Neue Kritik, April 1968, Nr.47, Seiten 10 ff.):
„Als Grass von den ‘wahrhaft faschistischen Methoden’ der Journalisten des Springer – Konzerns sprach, denunzierte er die bewußte Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht, bestätigte aber ausdrücklich das Recht der Springer – Zeitungen, in tagtäglicher ‘freier Meinungsäußerung’ Vorurteile zu verbreiten, Ressentiments gegen Minderheiten zu befestigen und eine illusionäre Politik zu propagieren, die dem faschistischen Potential in ungleich höherem Ausmaß Vorschub leistet als das Nebenprodukt einer Regelverletzung. Solange diese Gesellschaft weder fähig ist, die kapitalistischen Eigentums – und Herrschaftsverhältnisse durch demokratische Verhältnisse zu ersetzen, noch den gemeingefährlichen Springer – Konzern zu zerschlagen, so daß die reale Chance besteht, die Presse in ein Instrument der Aufklärung und der Entwicklung politischer Phantasie zu verwandeln, so lange ist der Faschismus als ein Massenphänomen nach wie vor die bedrohliche Perspektive dieser Gesellschaft. Als Jürgen Habermas die hypothetische Formel vom ‘linken Faschismus’ gebrauchte, wollte er vor einer selbstzerstörenden Formalisierung der provokativen Gewaltanwendung warnen; aber der überwiegende Teil der Aktionen der studentischen Protestbewegung ist gerechtfertigt durch das, woran er keinen Zweifel ließ: daß die ‘demonstrative Gewalt’ zur Erzwingung einer vom politischen Aufklärungsinteresse bestimmten Öffentlichkeit auch die Verletzung repressiv gewendeter Regeln einschließt. Der ‘Linksfaschismus’ ist die Projektion der systemimmanenten Faschisierungstendenzen auf leicht diskriminierbare Randgruppen. Diejenigen, die heute unentwegt von Terror und Faschismus reden, sollten bedenken, daß vor allem die schleichende Entwertung der Grundrechte und die Aushöhlung demokratischer Institutionen den Boden bereiten helfen, auf dem ein neuer Faschismus wachsen kann. Wie in der Vergangenheit wird er sich im Zentrum, nicht am Rande der Gesellschaft entwickeln; nicht die ordnungsbesessenen Horden, welche die Straßen unsicher machten, sondern dienstwillige Richter, Techniker, Unternehmer und Professoren bildeten das Rückgrat des deutschen Faschismus. Die einzige Möglichkeit, seine Rückkehr in allen verschleierten und offenen Formen rechtzeitig zu verhindern, besteht in der täglichen Realisierung liberaler und politischer Freiheitsrechte. Wer die Sicherung der Freiheit dem Staat, seinen Beauftragten, dem Verfassungsschutz und den Organisationen überläßt, ist Opfer einer fatalen Illusion: er glaubt an die Existenzfähigkeit einer Demokratie ohne Demokraten.“
Anlässlich des Attentats auf Dutschke wird diese Faschismusformel besonders agressiv argumentativ genutzt. Im DISKUS-EXTRA vom 1. April 1968 geschieht dies bezogen auf die „Springerpresse“ folgendermaßen:
„Ob nun die Politiker mit dem Zorn des Volkes drohen, dem bald der Kragen platzen wird, oder mit dem Rechtsradikalismus: sie malen Gespenster an die Wand, um die außerparlamentarische Opposition einzuschüchtern. – Gleichzeitig benutzen sie auch wirkliche unorganisierte Gewalttätigkeit aus der Bevölkerung, um die Opposition zu entmutigen. So drohte die FAZ nach dem Attentat auf Dutschke, es möge als ‘Warnung’ dienen. Ganz offen billigen diejenigen den vereinzelten rechtsradikalen Terror, die sagen: Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten. Dutschke soll wie damals Ohnesorg selbst schuld sein, daß auf ihn ein Mordanschlag verübt wurde. – Auch die Weimarer Republik und ihr Ende im Faschismus wird als Gespenst zur Einschüchterung herangezogen. Hans Schuster schrieb in der Süddeutschen Zeitung: ‘Am Ende würde der Diktator stehen, der sich auf Ruhe, Ordnung und Sauberkeit beruft.’ – Aber heute brauchen die herrschenden Parteien keinen Diktator, um Ruhe und Ordnung zu garantieren. Das tun sie selbst. Die Mitte hat sich heute um die SPD und NPD verstärkt, sie hat ihre Presse und ihren Polizeiapparat. Und weil sie selber die Gewalttätigkeit des Faschismus soweit nötig verkörpert, hat sie auch den organisierten Rechtsradikalismus überflüssig gemacht. – Trotzdem wird der Mordanschlag auf Dutschke noch in den überholten Begriffen von Rechts- und Linksradikalismus interpretiert. ‘Der fanatische linksradikale Dutschke wurde das Opfer eines halbirren Rechtsradikalen.’ (BILD); ganz so als gäbe es eine Eigendynamik der radikalen Aktionen außerhalb der bestehenden Institutionen. – Aber schon 1933 hat das nicht gestimmt, denn das Großbürgertum unterstützt den Faschismus, um seine soziale Herrschaft zu stabilisieren. Heute sind die vereinzelten rechtsradikalen Gewalttaten noch viel unmittelbarer das Produkt und Mittel der politischen Führung des Bürgertums. Bachmanns Mordanschlag ist ebenso wie die Gewalttätigkeiten Berliner Bürger nicht denkbar ohne die systematische Hetze der Springerpresse und der herrschenden Parteien. Gegenüber diesem vereinzelten Terror aber ist der Terror der Gerichte und der Polizei systematisch. – Deutlich sah man bei den Aktionen zur Verhinderung der Auslieferung der Springererzeugnisse, daß sich die Polizei nicht darauf beschränkte, die angegriffenen Objekte wie das Springerhochhaus und Springerdruckereien zu schützen. Immer hatte sie es auf physischen Terror gegen die Demonstranten abgesehen, auf gezielte Prügel. Blind schlugen die Polizisten auf alles, was sich regte. Sie hatten es im Gegensatz zu Bachmann nur auf leichte bis schwere Verletzungen abgesehen, nur auf ‘Blut und Tränen’, wie Kiesinger es verhieß. Abschreckung durch gezielten physischen Terror: das ist das politische Programm der Polizei. – Nur noch mit Mühe kann sich der Terror der Mitte dadurch rechtfertigen, daß man die außerparlamentarische Opposition selbst als Terroristen und gewalttätige Bombenwerfer hinstellt. Doch überall hat man in diesen Tagen beobachten können, daß die Gewalt der Demonstranten sich nicht unmittelbar gegen Menschen richtete, nicht auf gezielten physischen Terror aus war, sondern gerade auf die Störung eines Teils der Maschinerie, die täglich zur Gewalt aufruft, nämlich die Springerpresse.“
Im Kontext der Oster-Aktionen am 15. und 16. April 1968 gehen die Brüder Frank und Karl-Dietrich Wolff ebenfalls auf dieses Thema ein (Neue Kritik, Nr.47, Seite 4), wobei sie hier zwischen offenem und systeminternen Faschismus unterscheiden
„Die These, daß der Faschismus sich heute im Zentrum der parlamentarischen Institutionen selber entwickle, etwa durch Notstandsgesetze, trifft abstrakt auch auf die Weimarer Republik zu – vgl. Präsidialdiktatur, Hugenberg-Konzern usw.; die wesentliche Differenz kommt darin zur Erscheinung, daß mit dem Trauma des offenen Faschismus die systeminterne Radikalisierung im ‘Kampf gegen Rechts- und Linksradikalismus‘ verschleiert werden kann. Es ist ein Komplement zur ökonomischen Krisenverschleppung. Die Frage steht zur Diskussion, ob die Verschärfung von Konflikten, ökonomischen wie politischen, eine umfassende, offene Brutalisierung der Machtverhältnisse erwarten läßt oder eine Fortentwicklung des manipulativen Instrumentariums im Rahmen schleichend sich verändernder Institutionen.„
Die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung Ostermarsch“ greift ebenfalls auf das Faschismusklischee zurück (Flugblatt vom 12.04.1968):
„Der verbrecherische Anschlag auf das Leben von Rudi Dutschke zeigt, wo in Wahrheit auch in der Bundesrepublik Deutschland der Terror zu suchen ist. Der Mordanschlag auf Dutschke ist ein extremer Ausdruck jener Hetze gegen die außerparlamentarische Opposition, die in der Bundesrepublik nun schon seit Monaten systematisch auch von einem Teil der Presse und Politiker betrieben wird. – Faschistische Kräfte greifen gegenüber den gewaltlosen Methoden und gegenüber den Argumenten der Opposition zu Mitteln der Gewalt, – so wie einst in der Weimarer-Republik. Wie damals, so gilt auch heute für die Bundesrepublik Deutschland der Satz: Der Feind der freiheit-demokratischen Ordnung steht rechts! – Wenn jetzt die Bundesregierung und der Westberliner Senat sich von dem Attentat auf Dutschke distanzieren, so ist festzustellen: – Die Bundesregierung hat nichts gegen die Hetze getan, die vor allem von Zeitungen des Springer-Konzerns und von der Münchener National-Zeitung gegenüber der außerparlamentarischen Opposition betrieben wurde. – Bonner Politiker waren es, die die Legende vom ‘Terror der Studenten’ in die Welt setzten, gegen den ‘hart durchgegriffen werden’ müsse. – Der Westberliner Senat war es, der durch Polizeistaatspraktiken und durch Anheizung von Pogromstimmung jenes Klima schuf, in dem es dann zum Attentat auf Dutschke kam.„
Siehe zum Beispiel ein Flugblatt des SDS vom 26.09.1968:
Ausdrucksstark ist zudem die folgende These in einem Flugblatt vom 07.01.1969 eines anonymen Urhebers, der fordert man müsse den „Aktiven Streik“ fortsetzen:
Ähnlich argumentiert der SDS in seinem Flugblatt vom 28.01.1969, in welchem er zu Protesten anlässlich zweier Strafverfahren aufruft:
Im Gegenzug wirft Kultusminister Schütte gewalttätigen Studenten, die ihn am 07.01.1969 im Verlauf einer Diskussionsveranstaltung in der Mensa bedrängen, Linksfaschismus vor:
Schließlich wird Habermas anlässlich der polizeilichen Räumung des Instituts für Sozialforschung in einem Flugblatt der Basisgruppe Slawistik vom 03.02.1969 ironisierend als Antifaschist tituliert:
Besonders alarmierend schildert das folgende Flugblatt der Basisgruppe AFE Anfang Februar 1969 anläßlich der Räumung des Instituts für Sozialforschung die angeblich dramatische Notlage der Studenten, in welchem der Bogen vom Polizeistaat zur autoritären Ordinarienunversität gezogen wird:
Konsequenterweise wirft dann in einem Flugblatt vom 03.02.1969 der Basisgruppenrat der Habermas vor, er sei Teil der konzertierten Aktion von Universitätsbürokratie zur Zerschlagung der APO. Dies lege die Faschisierungstendenzen des autortiären Staates offen: