Hans-Jürgen Krahl, SDS

Hans-Jürgen Krahl: Sohn des kaufmännischen Angestellten Rudolf Krahl und der Angestellten Erna Krahl, geb. Schulze., * 17. Januar 1943 in Sarstedt; † 13. Februar 1970 bei Wrexen (Arolsen).

Hans-Jürgen Krahl: Von sich selbst berauschter Agitator und Aktivist, Sprechmaschine, Sachwalter der „tätig begreifenden Menschlichkeit“, Hochstapler im Frankfurter Linksmilieu, der Robespierre von Bockenheim, Kämpfer gegen die kapitalistische Gesellschaft, auf der Suche nach der Arbeiterklasse.

Hans-Jürgen Krahl Studentenbewegung
Krahl agitiert auf der Treppe vor dem Rektorat am 15. Mai 1968
Hans-Jürgen Krahl Studentenbewegung
Krahl: Alle Macht den Räten!

Die Heldenverehrungsseite, die sich nur mit Krahl befasst

Herausgeber ist ein Herr Norbert Saßmannshausen. Entstanden ist der Auftritt im Rahmen der „Initiative Krahl-Gedächtnis“, der angehörten: Dorothea Rein (Verlag Neue Kritik) und Udo Riechmann.

Unterstützer dieser Initiative waren und sind unter anderem:

Elmar Altvater; Gerhard Amendt; Michael Bärmann; Gotthard Bechmann; Heinz Brakemeier; Detlev Claussen; Eva Demski; Rainer Deppe;Ulrich Enzensberger; Tilman Fichter; Wolfgang Kraushaar; Peter Mosler; Eckart Osborg; Rupert von Plottnitz; Konrad Schacht; K. D. Wolff

„Der Robespierre von Bockenheim“ und „Sprechmaschine“ Hans-Jürgen Krahl

Das Erscheinungsbild Hans-Jürgen Krahls, des Frankfurter SDS-Chefideologen, ist eher unauffällig und unliebenswürdig. Ein Journalist der FAZ, der ihn in einer Hotelhalle trifft, um ihn zu interviewen, schildert seinen Eindruck:

„Krahl, Mitglied des fünfköpfigen SDS-Bundesvorstandes und häufig als dessen ‘Sprechmaschine’ apostrophiert, sieht unscheinbar aus. Schmal, klein, das Gesicht meist weißlich-grau, dicke Ränder unter den Fingernägeln, könnte er irgendwo in einer Fabrikhalle an der Drehbank stehen. Es ist, als wollte er schon äußerlich dartun, worauf es ihm jetzt besonders ankommt: auf die Solidarisierung mit denen, die er mit dem Begriff Arbeiterklasse bezeichnet. Lediglich die doublégefaßte Intelektuellenbrille hinter deren rechten Glas sich ein künstliches Auge verbirgt (Folge eines Fliegerangriffs, als er noch im Kinderwagen saß) wäre ein Indiz dafür, daß er ein Kopfarbeiter ist, ein Arbeiter aber in jedem Fall.“

FAZ vom 8. September 1968: Die Sprechmaschine des SDS-Hans-Jürgen Krahl

Dieser Eindruck tritt in den Hintergrund, wenn Krahl die Chance erhält, über Mikrofon oder Megaphon sich an „sein“ Publikum zu wenden. Mit einer metallisch klingenden, leicht schneidenden, näselnden Stimme gelingt es ihm vorzüglich, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Reaktionsschnell und rhetorisch geschickt kann er Thema und Ton variieren; findet schnell Kontakt zur studentischem Zuhörerschaft.

Im Verlauf des gegen ihn von der Staatsanwaltschaft angestrengten Strafverfahrens wegen der Beteiligung an Protestaktionen gegen die Vergabe des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels an den Staats­präsidenten des Senegal, Leopold Senghor, äußert sich der 26 jährige Krahl Ende 1969 zu seiner persönlichen Entwicklung. Er macht „Angaben zur Person“. Es ist eine Selbstdarstellung, die von jugendlichem Idealismus, von leidenschaftlicher Hingabe an die „Sache“ zeugt. Mit beträchtlichem missionarischem Eifer ruft er zum Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft als ein totales Ausbeutungssystem auf. Sie unterdrücke die Massen. Sie hindere den Einzelnen an der Entfaltung von Phantasie und jeglicher schöpferischer Tätigkeit.

Krahl nutzt sein Plädoyer, um den „Erfahrungshintergrund“ zu schildern, der zu seiner Politisierung geführt hat. Hiernach stammt er aus den „finstersten Teilen“ Deutschland, aus Niedersachsen. Dort, wo auf den Dörfern jene Nicht-Öffentlichkeit von Zusammenkünften gepflegt werde, die an mittelalterliche Hexenprozesse erinnere. In diesem Milieu lebt er, so berichtet er, zunächst in erbarmungswürdiger Unmündigkeit. Er wird Mitglied des Ludendorffbundes, gründet in seiner Heimatstadt Alfeld im Jahre 1961 die Junge Union und tritt der CDU bei. Nachdem er zwei Jahre kontinuierlich an CDU-Versammlungen von Kleinstadt – Honoratioren teilgenommen hat, plagen ihn gleichsam Daumiersche Halluzinationen, so daß sich für ihn die Zusammenkünfte in Treffen von Hammel, Lamm – und Rindsköpfen verwandeln. Der nächste Schritt ist ein kurzes Engagement in der christlichen Kirche. Hier wird er, so kolportiert er, auf den Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer aufmerksam. Er erfährt so erstmals etwas über den Widerstand gegen den Faschismus. Schließlich gerät er zu Beginn seines Studiums in eine schlagende Verbindung, erlebt dort Stumpfsinn und Unterdrückung, erlebt „hirnlose Köpfe“, die permanent Faschismus produzieren. Die schlagende Verbindung muß er verlassen, nachdem er einen „antiautoritären Aufstand gegen einen alten Herrn“ provoziert. Dann, so schildert es Krahl nicht ohne Sinn für Effekte, beginnt seine Erweckung und Läuterung vom Saulus zum Paulus. Nicht etwa geht er schlicht andere Wege. Sondern die herrschende Klasse wirft ihn gleichsam aus ihrem Nest. Gemeint sind die ewig Gestrigen, die Rückständigen, Kleinstadthonoratioren der CDU, Studienräte, Amtsgerichtsräte, die sich untereinander wie Wölfe verhalten. Die ihn Ausstoßenden verachten Homosexuelle als Perverse, sind selbst „hirnlose Köpfe“. Ihnen stellt er revolutionäre Lichtgestalten gegenüber, denen es nachzueifern gilt: Che Guevara, Fidel Castro, Ho Tschi Minh und Mao Tse Tung, die angeblich Träger einer kompromißlosen, radikalen politischen Moral sind. [Krahl, Hans-Jürgen: Angaben zur Person. In: Konstitution und Klassenkampf. Mit einer Einleitung der Herausgeber Detlev Claussen, Bernd Leineweber, Ronny Loewy, Oskar Negt und Udo Riechmann, S.19 ff]

Die Flucht gelingt. Er erreicht ein anderes Nest: Den SDS, in dem er formell Mitglied wird. Hier gelingt es ihm nach seiner Schilderung erstmals, sich aus den Unterdrückungen und Knechtungen der herrschenden Klasse zu lösen. Gemeinsam mit seinen Genossen meint er, die Verlogenheit des herrschenden Systems durchschauen zu können, dem es nur darum geht, Menschen auszubeuten: In der Dritten Welt geschieht dies brutal und kaum verdeckt in Elend und Hunger. In den „spätkapitalistischen Industriemetropolen“ spielt sich dies verschleiert ab. Das unterdrückte Proletariat vermag dies nicht zu erkennen. Es ist Opfer eines perfiden Schwindels. Der Lohnempfänger bietet scheinbar in voller Freiheit seine Arbeitskraft an. Der Unternehmer verhandelt mit ihm über das Entgelt für dessen Leistung. Verschwiegen wird: Diejenigen, die zu viel verlangen, haben im „liberalen Konkurrenzkapitalismus“ in der Konkurrenz zu Mitbewerbern keine Chance, eine ihre freiheitliche Existenz sichernde Stelle zu erlangen. Sie reagieren nur noch, sind nicht mehr fähig zur Kritik, zur Erfahrung, zur Erinnerung und zum Begreifen. Sie degenerieren zu automatisch reagierenden Pawloschen Hunden. Das bürgerliche Individuum stirbt. Mit diesem geknechteten Individuum – so Krahl – solidarisieren sich der SDS und er selbst. Diese Solidarität gebietet es im Sinne von Herbert Marcuse, die kapitalistische Gesellschaft, in der so viele materiell gesichert leben, zu bekämpfen:

„Auch wir kämpfen um die politische Macht im Staat, aber wir haben eine Legitimation, denn unser Machtkampf ist begleitet von einem permanenten Kommunikationsprozess, in dem sich die Kategorien der Emanzipation, die erst im abstrakten Prinzip existieren, realisieren und entfalten, wo sie zum praktischen Dasein werden.“

 Krahl, Hans-Jürgen: Angaben zur Person. In: Konstitution und Klassenkampf, aaO, S.29

Ekstatisch schließt Krahl seine Rede mit der Versicherung, Sachwalter der „tätig begreifenden Menschlichkeit“ zu sein. Adressaten sind nicht nur die Richter des Strafverfahrens und die anwesenden Zuhörer, sondern die gesamte Öffentlichkeit, an die sich der Redner programmatisch wendet. Das konkrete Verhalten Krahls in Konfliktsituationen, dessen Fährte die vorliegende Untersuchung bisweilen folgt, vermag diese von ihm reklamierte Humanität allerdings nicht zu bestätigen.

Krahl im Zentrum der Aktionen

Festzuhalten bleibt: Krahl hat die Szene entscheidend mitgeprägt. Im Jahre 1988 meint „Der Spiegel“ rückblickend, so wie Rudi Dutschke das Herz der Apo gewesen sei, sei ihr Kopf Krahl gewesen. Keiner aus der Kerntruppe des SDS habe seinen Hegel, Lukacs oder Marcuse so beherrscht, wie er. Keiner habe auf Demos oder Teach-ins in jedem einzelnen Teilnehmer derart stark den Eindruck erweckt, einer Avantgarde anzugehören, die sich auch und vor allem von der Wissenschaft her voll gerechtfertigt wußte.

„Ein Dasein, […], in einem „permanenten Ausnahmezustand“. Krahl denkt und diskutiert und schreibt, während er unentwegt scharfe Spirituosen in sich hineinschüttet. Dennoch bleibt er bis tief in die Nacht eindrucksvoll wach; ständig auf dem Sprung, wenn es denn sein muß, „Äktschn“ zu organisieren. Der Meister in einer seiner Pinten im Frankfurter Universitäts-Stadtteil Bockenheim über das Problem räsonierend, wie sich aus einem „historisch-gesellschaftlichen Selbstbewußtsein“ das so sehnlich gewünschte „neue Subjekt“ herausbilden läßt: Ruhe und Konzentration sind da geboten, während er doch gleichzeitig darauf besteht, daß die Musikbox hinter ihm in einem fort seinen Lieblingssong dudelt. Der heißt „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“ und ist von Heintje, den er sehr mag. In den turbulenten Jahren haust er einem Clochard ähnlich in Studentenheimen oder bei Freunden – Matratze genügt. So nur selten über eine feste Adresse zu verfügen hat den Vorteil, daß er den Ermittlungsbehörden die Suche nach ihm erschwert. In einer riesigen, blaugrün karierten Stofftasche schleppt er dabei die ganze Habe mit sich herum. Neben den Standardwerken etwa Hegels und Horkheimers sind das vor allem ein altmodischer Pepitaanzug nebst Krawatte sowie in Massen Notizblöcke, in denen er festhält, was ihn täglich bewegt.“ 

Spiegel-Spezial vom 1. Januar 1988: Der Robespierre von Bockenheim

Diese Beschreibung bestätigt, daß er eher ein monomanischer Einzelgänger und Sonderling ist, der die Menschenmenge sucht, so wie er den Alkohol braucht, um agitierend sich selbst und die anderen mit seinen Ideen zu berauschen. Es wird berichtet, er wirke zuweilen mitten im Gespräch wie abgereist; wochenlang taucht er unter, ohne je einen Grund dafür anzugeben. ]

Spiegel-Spezial vom 1. Januar 1988: Der Robespierre von Bockenheim

Seine unter der anfänglichen Obhut Adornos geplante Dissertation zum Thema „Die Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung in der Lehre von Marx. Zum geschichtsphilosophischen Gehalt des historischen Materialismus“ führt er nie zu einem Ende. Sein von ihm geäußerte Wunsch, die Hochschullehrerlaufbahn zu ergreifen, bleibt ein Traum. Krahl stirbt im Februar 1970, als ein Kleinwagen, in dem er neben dem Fahrer sitzt, in der hintersten Provinz in der Nähe von Arolsen in einen Verkehrsunfall verwickelt wird. In einer Kurve gerät der PKW auf Glatteis, schleudert über die Fahrbahn und stößt frontal mit einem entgegenkommenden LKW zusammen. Krahl ist sofort tot.[7]

Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995. Band 1, aaO, S.483

Auch über seinen Tod hinaus nehmen seine Genossen die Leistungen ihres Vorkämpfers ernst, indem sie seine Schriften, Entwürfe und Reden, die teilweise nur fragmentarisch vorliegen, in einem über 400 seitigen Sammelband veröffentlichen, mit dem sie erklärtermaßen Krahl als Agitator, Theoretiker und Organisator würdigen und verklären.

Detlev Claussen, in der Zwischenzeit Professor für Soziologie an der Universität Hannover, gelangt 15 Jahre nach dem Tod seines ehemaligen Freundes zu einer subjektiven, etwas verschwurbelten und deprimierten Diagnose besonderer Art:

Krahls Leben, physisch wie psychisch auf einer abschüssigen tödlichen Bahn verlaufend, zeugt davon, mit welch existentiellem Ernst die Entfaltung eines emanzipativen Realitätsprinzips als kollektiver Möglichkeit zur Lebenschance für das Individuum wurde. Krahl ist nicht der einzige, der das Absterben einer emanzipativen sozialen Bewegung in Deutschland nicht überlebt hat.
[…..] Krahl selbst besaß mit allem zur Schau getragenen körperlichen Verfall etwas persönlich unorganisierbar Anarchisches,
das ihn – abgesehen von seiner kompromißlosen intellektuellen Radikalität, die keine freundschaftliche Rücksicht kannte – zum Mitglied irgendeiner Kaderpartei völlig unfähig machte. Mit den ersten ML-Tendenzen fielen auch schon die ersten tadelnden Worte über »Frankfurter Alkoholkonsum«, von dem ihn nur Schreiben und Lesen zurückhielt.

Claussen, Detlev: Hans-Jürgen Krahl – Ein philosophisch-politisches Profil. In: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Band 3, S.65 ff.

Bernd Rabehl berichtet in seinem Aufsatz „Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik“ über einen ganz anderen Krahl: Dieser sei eher ein Hochstapler im Frankfurter Linksmilieu gewesen. So habe er Adorno und anderen suggeriert, sein Name sei ein Pseudonym. In Wirklichkeit entstamme er dem preußischen Adel. Er sei Abkömmling der Familie von Hardenberg und ein Nachfahre von Novalis. [Dies bestätigt auch Rudolf zur Lippe. (Lippe, Rudolf zur: Die Frankfurter Studentenbewegung und Adorno. In: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Band 3, S122] Mit diesem Konstrukt habe er nicht nur seine Lehrer, sondern auch die Genossen im SDS beeindruckt. Tatsächlich komme er schlicht aus bürgerlichen Verhältnissen. Seine Familie habe ihm eine gute Ausbildung in einem Schweizer Internat ermöglicht. Jedenfalls habe Krahl den Bluff und das in Szene setzen perfekt beherrscht. Im Verschwörerischen von Männergemeinschaften habe er seine Heimat gefunden. [Rabehl, Bernd: Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik. In: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Band 3, S.34 ff]


Die Römerbergrede von Krahl gegen die angebliche Notstandsdiktatur

Ein kleiner Youtubefilm gibt einen Teil der Rede Krahls wider und präesentiert zudem ein Interview mit Amendt.

Die Beteiligung von Hans-Jürgen Krahl an der Besetzung des Rektorats am 1. Juli 1968

In einem Urteil des Amtsgerichts Berlin vom 25.07.1969 wird die Rolle Krahls im Verlauf der Besetzung im Detail beschrieben:

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Am 7. Juni 1968 erlässt der Rektor gegen Krahl wegen Beteiligung an der Rektoratsbesetzung und unter Hinweis auf die fehlende Immatrikulation seit dem WS 1967/68 ein Hausverbot.

Hans-Jürgen Krahl Studentenbewegung Frankfurt Hausverbot

Mitscherlich und Hans-Jürgen Krahl: Eine Videosequenz

Die Beteiligung von Hans-Jürgen Krahl an der Besetzung
des Instituts für Sozialforschung und das Strafurteil vom 25. Juli 1969

Unbedingt lesenswert ist das Urteil, weil hier Adorno und von Friedeburg als Belastungszeugen gegen Krahl auftreten und zitiert werden. Es dokumentiert die Ambivalenz der Beziehungen zwischen den Mentoren Krahls und ihrem Schützling

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Der Urteilstenor lautet:

„Der Angeklagte ist des Hausfriedensbruchs in zwei Fällen, davon in einem Falle fortgesetzt handelnd, Vergehen nach §§ 123, 74 StGB, schuldig. Er wird zu einer Gefängnisstrafe von 3 Monaten und zu einer Geldstrafe von 300,– DM, ersatzweise 6 Tage Gefängnis, verurteilt. Die erkannte Gefängnisstrafe gilt durch die erlittene Untersuchungshaft als getilgt.  Für die erkannte Freiheitsstrafe wird Strafaussetzung zur Bewährung bewilligt.“

Hans-Jürgen Krahl und seine „Konstitution und Klassenkampf“

Nie ist es zu dem ersehnten revolutionärem Klassenkampf gekommen. Immerhin hat Krahl sich theoretisierend im Rückgriff auf Lenin und Marx mit ihm auseinandergesetzt und gewagte, realitätsferne Thesen aufgestellt, die nur noch einen kleinen Zirkel von versponnen Utopisten interessieren können. Immerhin bestätigt er in seinen „Fünf Thesen zu Marcuse“ auf Seite 308:

Das notwendig anachronistische Bewusstsein der westdeutschen Protestbewegung im gegenwärtigen Stadium ist die Verkleidung des neuen emanzipatorischen Vernunftprinzips ins alte Gewand traditionalistischer Klassenkampfkategorien; der Begriff des Klassenkampfs, mit dem die Bewegung ebenso pragmatisch wie dogmatisch hantiert, entspricht weder der Klassenrealität noch der Emanzipationsnotwendigkeit der hochindustrialisierten Kapitalmetropolen.“

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Eine Rückschau von Koenen in der Frankfurter Rundschau

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Die neueste Glorifizierung (2022)

In einer neueren Textsammlung (2022) versuchen die Herausgeber Meike Gerber, Emanuel Kapfinger und Julian Volz erneut, hymnisch die Person und das Werk Hans-Jürgen Krahls zu verklären. Sie scheuen nicht davor zurück, ihn gar als Vertreter der kritischen Theorie neben Habermas und Adorno zu stellen.

Schon in ihrer Einleitung zu diesem Werk wird diese verkitschte Überhöhung der Rolle Krahls überdeutlich:

„Die Jahre eines Revolutionärs sind wie Hundejahre: Sie betragen ein Vielfaches humanoider Lebenszeit. Mit Blick auf das
Leben Hans-Jürgen Krahls bekommt diese Einsicht besondere Bedeutung. Obwohl er mit nur 27 Jahren auf dem Weg zu einer
Versammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) tragischerweise bei einem Autounfall starb, hatte sein
Leben bereits zu diesem Zeitpunkt eine Intensität erreicht, gegen die das Leben vieler anderer Menschen im hohen Alter ereignisarm erscheinen muss
.“

Seite 12 der Sammlung.

Als besondere Großtaten Krahls werten die Herausgeber:

„Er nahm am Aktiven Streik an der Universität Frankfurt teil und war schließlich an der Besetzung des Instituts für Sozialforschung beteiligt. Wegen dieser Besetzung stand Krahl bereits zwei Monate vor dem Senghor-Prozess vor Gericht. Als Zeuge sagte damals auch Adorno aus – der die Polizei gerufen hatte, um das Institut räumen zu lassen.“

Seite 14 der Sammlung.

Amüsant sind allerdings die vier Geschichten, die Alexander Kluge im Vorwort beiträgt, der davon phantasiert, Krahl sei sogar von Attentätern bedroht worden:

Der Riesenkörper des Genossen Riechmann bewachte Krahl in der Bockenheimer Warte. Studentische Genossen und Jungarbeiter saßen mit am Tisch. Krahl begann mit einer „Schulung“. Es sollte diesem „revolutionären“ Geist, dem Genossen
Krahl, niemals geschehen, was so vielen anderen Genossen der Arbeiterbewegung schon passiert war: dass sie erschossen wurden von Attentätern. Riechmann hätte eine solche Person erkannt, wenn sie in dieses Lokal hereinträte. Mit seinen Schultern
und starken Armen hätte er den Täter festgehalten. Er hätte die Schusswaffe oder das Messer an sich genommen. Oder aber
sein großer Leib hätte sich vor Krahl gestellt, das Geschoss, das Messer und die tödliche Waffe, auf sich gezogen.“

Seite 8 der Sammlung.

Kurios ist in diesem Kontext die verquaste Rezension eines Herrn Zeevart, der auf folgendes aufmerksam macht, und bei dieser Gelegenheit nebenbei die nicht vorhandene Arbeiterklasse in eine „Arbeiter*innenklasse“ verwandelt:

„Dieses Politikverständnis Krahl bildet eine im besten Sinne des Wortes materialistisch fundierte politische Praxis, eine Praxis, die ihre Schlüsse zieht aus dem was ist. Teil von dieser ehrlichen Bestandsaufnahme war immer, die Integration der Arbeiter*innenklasse in Vertröstungs- und vermeintliche Teilhabestrategien des Kapitals ernst zu nehmen und sich der Frage zu stellen, wie die Scheiße, die von Leuten gedacht und gemacht wird in die Köpfe kommt und wie sie dort wieder herauszuholen ist. Dabei geht es insbesondere um die Inkorporation proletarischer Klassenelemente in die Sozialpartnerschaft, die Umleitung von Wut und Antagonismus in die geregelten Bahnen bürgerlicher Glücksversprechen und die ideologischen Angebote, die solche Verrenkungen produzieren.“

„Wut und Gedanke“ – Krahl feiert seine Wiederauferstehung im Frankfurter Schauspiel

Am 8. März 2015 präsentiert Christian Franke in einer Uraufführung des Frankfurter Schauspiels in Zusammenarbeit der Johann Wolfgang Goethe-Universität den »Robespierre von Bockenheim«.

Regie Christian Franke; Raum Sabine Mäder; Kostüme Raphaela Rose; Dramaturgie Sibylle Baschung; Vincent Glander als Krahl:

Der Begleittext lautet:

»Christian Franke hat sich im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums der Goethe-Universität Frankfurt mit dieser für sie stürmischen und wichtigen Zeit beschäftigt und einen Monolog geschrieben über die Frankfurter Schule und die Studentenbewegung, das Verhältnis von Theorie und Praxis. Wenn der Sozialismus unwahrscheinlich ist, bedarf es der um so verzweifelteren Entschlossenheit, ihn wahr zu machen« – Spruchbänder in Seminarräumen und Flugblätter auf dem Campus. Im Januar 1969 besetzen Studenten das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Die Institutsleiter Theodor W. Adorno und Ludwig von Friedeburg lassen die Besetzung auflösen. Hans-Jürgen Krahl wird als einziger der Studenten angezeigt. Krahl, der »Robespierre von Bockenheim«, wie er von seinen Genossen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds genannt wird, war nicht nur Cheftheoretiker der Studentenbewegung, sondern auch bester und vielversprechendster Schüler Adornos. Mit dem Einschreiten der Polizei ist der offene Bruch zwischen Lehrer und Schüler unvermeidbar.[8]

Wikipedia Christian Franke