Th.W.Adorno

Idol und gleichzeitig Gegner der Aktionisten, Gewaltgegner, Theoretiker, Opfer des sogenannten „Busenattentats“ und Mitverantwortlicher für die polizeiliche Räumung des Instituts für Sozialforschung

Adorno * 11. September 1903 in Frankfurt am Main als Theodor Ludwig Wiesengrund; † 6. August 1969 in Visp, Schweiz, amtlich bestätigter Nachname: Adorno, während das Wiesengrund zum W. schrumpft. Also: Theodor W. Adorno. (Siehe hierzu: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, S. 83)

Theodor W. Adorno Theorie Studentenbewegung
Theodor W. Adorno Terror Studentenbewegung
Theodor W. Adorno Studentenbewegung Besetzung
Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno —  Gratis-Zusammenfassung

Ein Tondokument: Über die Aufarbeitung der Vergangenheit

Ein Videovortrag über Adorno von Prof. Fischer: Adorno in 60 Minuten

Dienstliche Stellung innerhalb der Universität und des Instituts für Sozialforschung

Adorno wird 1950 zum außerordentlichen Professor ernannt und 1955 als ordentlicher Professor für Soziologie und Philosophie berufen. Seit dem Sommersemester 1954 bietet er bis zu seinem Tod im Jahr 1969 regelmäßig soziologische Lehrveranstaltungen an. Zusammen mit Liebrucks und Habermas ist er Direktor des Philosophischen Seminars. Zudem leitet er ab 1958 das Institut für Sozialforschung und gleichzeitig das Soziologische Seminar.

Adorno und der SDS

Schon im Juni 1967, anlässlich des Todes von Benno Ohnesorg, gerät Adorno zusammen mit Horkheimer im Verlauf einer Diskussionsveranstaltung in das Visier des SDS, der ihnen vorwirft, sich in die Theorie zu flüchten, obwohl praktischer Widerstand zu fordern sei. Monika Steffen berichtet in einer Extraausgabe des Diskus über das Treffen:

Adorno reagiert hierauf in der Diskus-Ausgabe vom September/Oktober 1967 mit einem kleinen Leserbrief:

Adorno und Monika Steffen

Adorno und Herbert Marcuse

Ab Februar 1969 bis zu Adornos Tod tragen Adorno und Herbert Marcuse in einem intensiven
Briefwechsel einen Dissens aus, von dem Adorno in einem Brief an Horkheimer bereits befürchtete, er könnte einen „Bruch zwischen ihm und uns“ herbeiführen. Marcuse kritisiert Adornos Praxis- Abstinenz ebenso wie Habermas’ Vorwurf des „linken Faschismus“ gegenüber den rebellierenden Studenten sowie die polizeiliche Räumung des besetzten Instituts. Adorno verteidigt Habermas’ Vorwurf. Auch er sieht er jetzt Tendenzen, die „mit dem Faschismus unmittelbar konvergieren“, und nimmt, wie er Marcuse schreibt, „die Gefahr des Umschlags der Studentenbewegung in Faschismus viel schwerer als Du“.

Adorno und seine Lehrveranstaltungen

Auffallend ist: Einige der aktiven Seminarteilnehmer sind SDS-Mitglieder. Dies bestätigen die Protokolle seiner Seminare, die seit dem WS 1965/66 bis einschließlich Sommersemester 1969 stattfinden. In einem Interview erläutert dies Dirk Braunstein:

Zu Beginn jeder einzelnen Seminarsitzung wurde eine Studentin bzw. ein Student gebeten, die kommende Sitzung zu protokollieren; eine Praxis, wie sie damals durchaus üblich war, auch von den Seminaren Horkheimers und Habermas‘ etwa finden sich solche Protokolle, mittlerweile habe ich von mehreren Seiten gehört, dass diese Vorgehensweise bekannt ist, nicht nur für Frankfurt. Die Protokolle hatten in der Hauptsache die Funktion, einen roten Faden durch die Veranstaltungen zu spinnen, indem zu Beginn jeder Sitzung das Protokoll der vorangegangenen verlesen wurde, um daran anzuschließen. Mehrere ehemalige Teilnehmer an Adornos Seminaren, ich nenne nur Iring Fetscher und Alfred Schmidt, entsinnen sich der Tatsache, dass die anschließende Besprechung der Protokolle selbst wieder soviel Zeit in Anspruch nahmen, soviel Diskussionsstoff lieferten, dass für das eigentlich geplante Referat der Stunde kaum noch Zeit blieb.“

Interview mit Dirk Braunstein über Protokolle aus Theodor W. Adornos Seminaren
Siehe auch das Interview vom 27. Oktober 2020.
Siehe auch: Nico Bobka, Dirk Braunstein: Die Lehrveranstaltungen Theodor W. Adornos

Eine der Protokollanten ist die später mehrfach ausgezeichnete Theater- und Hörspielautorin Gisela von Wysocki. In Ihrem 2016 erschienenen Roman „Wiesengrund“, benannt nach Adornos jüdischem Familiennamen, versucht sie emphatisch, das Milieu und die Atmosphäre in den Seminaren Adornos zu beschreiben, der aus ihrer Sicht wie ein Messias auftritt:

Das Gesicht rund, weich, steht wie ein entfernter Mond über den Sitzreihen der Zuhörer. Ich entdecke, dass der Blick gerade jetzt wieder die Richtung geändert hat. Der Blick ist abgebogen, er schaut an den Zuhörern vorbei. Er ankert irgendwo in der Leere. Er hat sich losgemacht vom Auditorium, von unseren Köpfen, von den aufgeschlagenen Heften, den Schreibutensilien. Es sieht aus, als könnten die Gedanken den Blick nicht halten. Nicht in Zeit und Raum dieses Hörsaals. Der Blick sucht die Weite, ausgelagert, aus der Bahn geworfen, während der Mund druckreife Formulierungen in die Welt setzt: vergleichbar einem Gegenzauber, der auf die Wiederherstellung der Balance gerichtet ist.“

Seminar-Sitzungsprotokolle von Theodor W. Adorno „Das Ganze der Welt im Blick zu behalten“, Feature im Deutschlandfunk vom 11. Februar 2021

In seinem Roman „Der Insulaner“ beschreibt Boetius als studentischer Teilnehmer eines Oberseminars, das Adorno und Horkheimer gemeinsam veranstalten, aus seiner Sicht die Veranstaltung als eine Art Kabarettveranstaltung:

„An der Uni belegte ich wieder mehr Vorlesungen und Seminare, denn ich wollte mich auf das Philosophikum vorbereiten. Auch hatte ich die Kühnheit besessen, mich für das illustre Oberseminar von Adorno und Horkheimer anzumelden. Die Veranstaltung fand in einem tristen Hauskubus statt, dem Institut für Sozialforschung. Die Stimmung im Seminarraum war weihevoll und nüchtern zugleich. Man sprach leise, ehrfürchtig flüsternd, als seien wir lauter Erstklässler des Denkens, die um den großen Geburtstagstisch der Wahrheit saßen, von der wir ja alle wussten, dass man sie leider nicht in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen konnte. An der einen Längsseite des Tisches standen zwei leere Stühle. Wir warteten ziemlich lange, und die Spannung stieg und entlud sich in leisen Bemerkungen. […] Adorno und Horkheimer duzten sich ganz ungeniert und öffentlich. Das schloss uns natürlich zusätzlich aus, da wir uns alle mit »Sie« anredeten. Die wenigsten von uns vermochten dem Dialog zu folgen. Worum ging es eigentlich? Waren das Genies oder Scharlatane? Zumindest waren beide in hohem Maße schlitzohrig, unterhaltsam und bis über beide Ohren verliebt in ihre Formulierungskunst. Und dennoch war es tatsächlich ein Ort angewandten Denkens, auch wenn es kaum Ergebnisse zeitigte. Einmal begann Adorno eine längere Ausführung mit den Worten: »Wer wie ich mit dem Fluch der exakten Phantasie geschlagen ist … « Ich war elektrisiert. Exakte Phantasie, genau das war es, was auch ich haben wollte. Phantasie nicht als Abschweifung, als Träumerei, als Flucht aus der Realität, sondern als das genaue Gegenteil, als ihre präzise Beschreibung. In dem Dialog der beiden Philosophen trieben einige Wörter wie Fahrwassertonnen, die das Kurshalten erleichterten: »banausisch«, »Verdinglichung«, »Hypostasierung«. Dennoch gelang es mir häufig nicht, der komplexen Argumentation zu folgen. Wenn Adorno jedoch Sibelius als komponierenden Oberförster bezeichnete oder von einem Buch erzählte, mit dessen Hilfe man beim Smalltalk in Amerika Sinfonien identifizieren konnte, und zwar durch gereimte Verse, denen die folgen, und zwar durch gereimte Verse, denen die Anfangstakte unterlegt waren, zum Beispiel »Come let me in, I am your faith«, woran man Beethovens Schicksalssinfonie erkannte, dann herrschte eine Stimmung wie in einer Kabarettveranstaltung.“

Henning Boetius, Der Insulaner, btb, 2017

Adorno verstrickt in die Auseinandersetzungen

Die folgenden zwei polizeilichen Vermerke aus dem Akten des Polizeipräsidiums verdeutlichen, zu welchen  kuriosen Verwirrungen es kommen kann, wenn Außenstehende der Namensvielfalt Adornos begegnen. Immerhin ist polizeilich nichts zu veranlassen:

Theodor W. Adorno Wiesengrund Studentenbewegung

Adorno und das Hausverbot für Krahl

Theodor W. Adorno Universität Studentenbewegung

Der Rektor erteilt am 7. Juni 1968 Krahl ein Hausverbot. Jedoch kann es ihm nicht zugestellt werden. Deswegen wendet sich Rüegg mit folgendem Schreiben an Adorno:

Theodor W. Adorno Busenattentat Studentenbewegung

Adorno reagiert nicht schriftlich, sondern bestätigt dem Rektor am 27. Juni 1968 telefonisch, er werde der Bitte entsprechen. Der Kurator von Thümen fasst dieses Ergebnis in dem folgenden Schreiben an Adorno zusammen:

Theodor W. Adorno Hasusfriedensbruch Studentenbewegung

Das Institut für Sozialforschung, „die studentische Revolte“ und Adorno

Einem anderen Thema widmet sich Adorno, in seinem Schreiben vom 22. November 1968 an Prof. Böhm, den Vorsitzenden der Stiftung Institut für Sozialforschung, in welchem er sich über Äußerungen von Rüegg beschwert:

Theodor W. Adorno Intoleranz Studentenbewegung
Theodor W. Adorno Toleranz Studentenbewegung
Theodor W. Adorno Gewalt Studentenbewegung

Die Rolle von Adorno bei der Räumung des Instituts für Sozialforschung am 31. Januar 1969

In diesem Kontext ist der folgende Polizeibericht vom 31. Januar 1969 zur Räumung des Instituts für Sozialforschung, mit der auch Adorno befasst ist, aufschlussreich:

Adorno Studentenbewegung
Theodor W. Adorno Polizei Studentenbewegung
Adorno im verlauf der polizeilichen Räumung des Instituts für Sozialforschung

Das Tränengerücht und das sogenannte „Busenattentat“ am 22. April 1969

Hierzu kann die folgende Sonderseite aufgerufen werden:

V. Der Klausurenkonflikt am 15. Juli 1969

Adorno

„Von Adornos letzter Vorlesung »Einleitung in dialektisches Denken« aus dem Sommersemester 1969 finden sich weder Tonbandaufnahmen noch Mitschriften. Überliefert sind allein Adornos Stichworte von drei Vorlesungsstunden (Adorno 2000b).
Die Vorlesung wurde mehrfach durch Studenten gestört und musste schließlich abgesagt werden. Auch die Durchführung des philosophischen Hauptseminars war zeitweilig nicht möglich. In einem Brief an den Hessischen Kultusminister vom 24. April 1969 schreibt Adorno:

»[D]a eine meiner Vorlesungen unter den widerwärtigsten Umständen gesprengt worden ist und die Abhaltung einer zweiten dadurch unmöglich gemacht, daß die aktionistischen Studenten in meinem Hörsaal und für die gleiche Zeit wie meine Vorlesung eine Plenarsitzung anberaumt haben, sehe ich mich nach Rücksprache mit dem Herrn Prorektor zu meinem größten Bedauern gezwungen, die Vorlesung auf unbestimmte Zeit ausfallen zu lassen. Da das philosophische Hauptseminar der Behandlung der in der Vorlesung thematischen Fragen gelten sollte, ist durch die Störaktionen auch die Abhaltung des Seminars problematisch geworden, und das Seminar kann ebenfalls bis auf weiteres nicht stattfinden.« (Adorno 2000a: 101)
Weiter berichtet Adorno am 13. Juni dem Dekan der Philosophischen Fakultät:
»Ordnungsgemäß mache ich Ihnen davon Mitteilung, daß gestern wieder meine Vorlesung gesprengt worden ist. […] Für nächsten Donnerstag hat man gleichzeitig mit meiner Vorlesung eine sogenannte Vollversammlung der Philosophen im Hörsaal VI anberaumt, offensichtlich um meine Vorlesung, die im Hörsaal V stattfinden soll, zu sabotieren. Ich werde daraufhin am Dienstag, dem 24. Juni, nochmals einen Versuch zu lesen machen, sollte dieser auch scheitern, so müßte ich zu meinem großen Bedauern meine Vorlesung für den Rest des Semesters absagen. Betonen dagegen möchte ich, daß mein sehr stark besuchtes philosophisches Hauptseminar ohne jede Störung in durchaus sachlicher und fruchtbarer Weise verlaufen ist und daß ich zunächst keinen Anlaß sehe, dies Seminar abzusagen. Mein soziologisches Hauptseminar, das sich in Arbeitsgruppen aufgegliedert hat, läuft ohnehin weiter, wenn auch bei der letzten Plenarsitzung unter erheblichen Schwierigkeiten.« (Ebd.: 108 f.)
Die Störaktionen einiger Studenten kulminierten schließlich in physischer Gewalt.
So berichtet Adorno in einer Aktennotiz vom 17. Juli 1969 von den Versuchen, die Vordiplom-Klausuren in dem Lehrfach Soziologie am 14. Juli zu verhindern:
»Mehrere unserer Assistentinnen und Assistenten wurden mit ätzenden Flüssigkeiten bespritzt […]. Professor Rauter und ich stellten uns in den Eingang des Hörsaals, um das Eindringen der Störer zu verhindern. Ein junger Mann, mir weder dem Namen nach noch auch physiognomisch bekannt (ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt Student ist, schwerlich dürfte es ein Soziologiestudent sein), suchte mich wegzudrängen. Ich fragte ihn, ob das physische Gewalt sei, er antwortete ausdrücklich ›Ja‹ und versetzte mir einen Stoß, der immerhin kräftig genug war, um mich zum Taumeln zu bringen. Die Störergruppe konnte dadurch an mir vorbei in den Hörsaal. In diesen war ich selbst gestoßen worden, verließ ihn aber sogleich. Fast im selben Augenblick muss Tränengas, entweder schon vorher im Hörsaal vorbereitet oder von der Störergruppe geworfen, wirksam geworden sein; jedenfalls verspürte ich, der sich gerade in ärztlicher Behandlung wegen einer Bindehautentzündung befindet, sehr heftige Schmerzen in den Augen.« (Ebd.: 113 f.)
Bleibt nachzutragen, dass Adorno, nachdem zunächst für das Schreiben der Klausuren Sorge getragen werden konnte, »nach der Aktion noch mit den Studenten, und zwar sowohl mit Schreibwilligen wie mit Störern, über eine beträchtliche Zeit die Diskussion fortsetzte.« (Ebd.: 114).“

NICO BOBKA, DIRK BRAUNSTEIN, DIE LEHRVERANSTALTUNGEN THEODOR W. ADORNOS
Eine kommentierte Übersicht

Das Spiegelinterview vom 5. Mai 1969 – Keine Angst vor dem Elfenbeinturm

„SPIEGEL: Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung.

ADORNO: Mir nicht.

SPIEGEL: Sie sagten, Ihr Verhältnis zu den Studenten sei nicht beeinträchtigt. In Ihren Lehrveranstaltungen werde fruchtbar und sachlich ohne private Trübung diskutiert. Nun haben Sie jedoch Ihre Vorlesung abgesagt.

ADORNO: Ich habe meine Vorlesung nicht für das ganze Semester abgesagt, sondern nur bis auf weiteres in ein paar Wochen will ich sie wiederaufnehmen. Das machen alle Kollegen bei derartigen Vorlesungs-Sprengungen.

SPIEGEL: Hat man Gewalt gegen Sie angewandt?

ADORNO: Nicht physische Gewalt, aber es wurde ein solcher Lärm gemacht, daß die Vorlesung darin untergegangen wäre. Das war offensichtlich geplant.

SPIEGEL: Stößt Sie nur die Form ab, mit der die Studenten heute gegen Sie vorgehen — Studenten, die früher zu Ihnen gehalten haben, oder stören Sie auch die politischen Ziele? Früher herrschte ja wohl Übereinstimmung zwischen Ihnen und den Rebellen.

ADORNO: Das ist nicht die Dimension, auf der sich die Differenzen abspielen. Ich habe neulich in einem Fernsehinterview gesagt, ich hätte zwar ein theoretisches Modell aufgestellt, hätte aber nicht ahnen können, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen. Dieser Satz ist unzählige Male zitiert worden, aber er bedarf sehr der Interpretation.

SPIEGEL: Wie würden Sie ihn heute interpretieren?

ADORNO: Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfindet. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. Es hat vielleicht praktische Wirkungen dadurch gehabt, daß manche Motive in das Bewußtsein übergegangen sind, aber ich habe niemals irgend etwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen abgezielt hätte. Seitdem es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen von Studenten immer wieder versucht, mich zur Solidarität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir verlangt. Das habe ich verweigert.

SPIEGEL: Aber die kritische Theorie will die Verhältnisse nicht so lassen, wie sie sind. Das haben die SDS-Studenten von Ihnen gelernt. Sie, Herr Professor, verweigern sich jetzt jedoch der Praxis. Pflegen Sie also nur eine „Liturgie der Kritik“, wie Dahrendorf behauptet hat?

ADORNO: Bei Dahrendorf waltet ein Oberton von frisch-fröhlicher Überzeugung: Wenn man nur im kleinen bessert, dann wird vielleicht auch alles besser werden. Das kann ich als Voraussetzung nicht anerkennen. Bei der Apo aber begegne ich immer dem Zwang, sich auszuliefern, mitzumachen, und dem habe ich mich seit meiner frühesten Jugend widersetzt. Und es hat sich darin bei mir nichts geändert. Ich versuche das, was ich erkenne und was ich denke, auszusprechen. Aber ich kann es nicht danach einrichten, was man damit anfangen kann und was daraus wird.

SPIEGEL: Wissenschaft im Elfenbeinturm also?

ADORNO: Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm gar keine Angst. Dieser Ausdruck hat einmal bessere Tage gesehen, als Baudelaire ihn gebraucht hat. Jedoch wenn Sie schon vom Elfenbeinturm sprechen: Ich glaube, daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft. Das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis besteht heute gerade darin, daß die Theorie einer praktischen Vorzensur unterworfen wird. Man will mir zum Beispiel verbieten, einfache Dinge auszusprechen, die den illusionären Charakter vieler politischer Zielsetzungen bestimmter Studenten zeigen.

SPIEGEL: Diese Studenten haben aber offenbar große Gefolgschaft.

ADORNO: Es gelingt immer wieder einer kleinen Gruppe, Loyalitätszwänge auszuüben, denen sich die große Mehrheit der linken Studenten nicht entziehen mag. Aber das möchte ich noch einmal sagen: Sie können sich dabei nicht auf Aktionsmodelle berufen, die ich ihnen gegeben hätte, um mich dann später davon zu distanzieren. Von solchen Modellen kann keine Rede sein.

SPIEGEL: Gleichwohl ist es doch so, daß die Studenten sich manchmal sehr direkt, manchmal indirekt, auf Ihre Gesellschaftskritik berufen. Ohne Ihre Theorien wäre die studentische Protestbewegung vielleicht gar nicht entstanden.

ADORNO: Das mochte ich nicht leugnen; trotzdem ist dieser Zusammenhang für mich schwer zu übersehen. Ich würde schon glauben, daß etwa die Kritik gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, die ich auch in ihren demonstrativen Formen für völlig legitim halte, ohne das Kapitel „Kulturindustrie“ in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und mir nicht möglich gewesen wäre. Aber ich glaube, man stellt sich oft den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis zu kurzschlüssig vor. Wenn man 20 Jahre mit dieser Intensität gelehrt und publiziert hat wie ich, geht das schon in das allgemeine Bewußtsein über.

SPIEGEL: Und damit wohl auch in die Praxis?

ADORNO: Unter Umständen — das ist aber nicht notwendig so. In unseren Arbeiten wird der Wert von sogenannten Einzelaktionen durch die Betonung der gesellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt.

SPIEGEL: Wie wollen Sie aber die gesellschaftliche Totalität ohne Einzelaktionen ändern?

ADORNO: Da bin ich überfragt. Auf die Frage „Was soll man tun“ kann ich wirklich meist nur antworten „Ich weiß es nicht“. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vorgeworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man“s besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.

SPIEGEL: Sie haben doch in Ihren Arbeiten die kritische Theorie von beliebigen anderen Theorien abgesetzt. Sie soll nicht bloß empirisch die Wirklichkeit beschreiben, sondern gerade auch die richtige Einrichtung der Gesellschaft mit bedenken.

ADORNO: Hier ging es mir um die Kritik des Positivismus. Beachten Sie dabei, daß ich gesagt habe, mit bedenken. In diesem Satz steckt doch nicht, daß ich mir anmaßen würde zu sagen, wie man nun handelt.

SPIEGEL: Aber Sie haben einmal gesagt, die kritische Theorie solle „den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet“. Wenn die Studenten nun mit diesem Stein werfen — ist das so unverständlich?

ADORNO: Unverständlich ist es sicher nicht. Ich glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Verzweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft zu verändern. Aber ich bin ebenso überzeugt davon, daß diese Einzelaktionen zum Scheitern verurteilt sind; das hat sich auch bei der Mai-Revolte in Frankreich gezeigt.

SPIEGEL: Wenn Einzelaktionen also sinnlos sind, bleibt dann nicht nur „kritische Ohnmacht“, wie sie der SDS Ihnen vorgeworfen hat?

ADORNO: Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: „Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.“ Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. — Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra“ Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.

SPIEGEL: Ihr Kollege Jürgen Habermas, auch ein Verfechter kritischer Theorie, hat gerade jetzt in einem Aufsatz zugestanden, daß die Studenten „phantasiereichen Provokationismus“ entfaltet haben und wirklich etwas zu ändern vermochten.

ADORNO: Darin würde ich Habermas zustimmen. Ich glaube, daß die Hochschulreform, von der wir im übrigen noch nicht wissen, wie sie ausgeht, ohne die Studenten überhaupt nicht in Gang gekommen wäre. Ich glaube, daß die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Verdummungsprozesse, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorwalten, ohne die Studentenbewegung sich niemals auskristallisiert hätte. Und ich glaube weiter — um etwas ganz Konkretes zu nennen -, daß nur durch die von Berliner Studenten geführte Untersuchung der Ermordung Ohnesorgs diese ganze grauenhafte Geschichte überhaupt ins öffentliche Bewußtsein gedrungen ist. Ich möchte damit sagen, daß ich mich keineswegs praktischen Konsequenzen verschließe, wenn sie mir selber durchsichtig sind.

SPIEGEL: Und wann waren sie Ihnen durchsichtig?

ADORNO: Ich habe an Kundgebungen gegen die Notstandsgesetze teilgenommen, und ich habe im Bereich der Strafrechtsreform getan, was ich tun konnte. Aber es Ist doch ein Unterschied ums Ganze, ob ich so etwas tue oder mich an einer nun wirklich schon halb wahnhaften Praxis beteilige und Steine gegen Universitätsinstitute werfe.

SPIEGEL: Woran würden Sie messen, ob eine Aktion sinnvoll ist oder nicht?

ADORNO: Einmal hängt die Entscheidung weitgehend von der konkreten Situation ab, Zum anderen habe ich allerdings gegen jede Anwendung von Gewalt die schwersten Vorbehalte. Ich müßte mein ganzes Leben verleugnen — die Erfahrungen unter Hitler und was ich am Stalinismus beobachtet habe -, wenn ich dem ewigen Zirkel der Anwendung von Gewalt gegen Gewalt mich nicht verweigern würde, Ich kann mir eine sinnvolle verändernde Praxis nur als gewaltlose Praxis vorstellen.

SPIEGEL: Auch unter einer faschistischen Diktatur?

ADORNO: Sicher wird es Situationen geben, in denen das anders aussieht. Auf einen wirklichen Faschismus kann man nur mit Gewalt reagieren. Da bin ich alles andere als starr. Wer jedoch nach der Ermordung ungezählter Millionen von Menschen in den totalitären Staaten heute noch Gewalt predigt, dem versage ich die Gefolgschaft. Das ist die entscheidende Schwelle.

SPIEGEL: Ist diese Schwelle überschritten worden, als Studenten versuchten, durch Sitzstreiks die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern?

ADORNO: Diesen Sitzstreik halte ich für legitim.

SPIEGEL: Wurde diese Schwelle überschritten, als Studenten Ihre Vorlesung durch Lärm und Sex-Einlagen störten?

ADORNO: Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert.

SPIEGEL: Sollte der ungewöhnliche Akt vielleicht Ihre Theorie verwirren?

ADORNO: Mir scheint, daß es bei diesen Aktionen gegen mich weniger um den Inhalt meiner Vorlesung geht; wichtiger ist dem extremen Flügel wohl die Publizität. Er leidet unter der Angst, in Vergessenheit zu geraten. So wird er zum Sklaven seiner eigenen Publizität. Eine Vorlesung wie die meine, die von etwa 1000 Leuten besucht wird, ist selbstverständlich ein herrliches Forum für Propaganda der Tat.

SPIEGEL: Läßt sich nicht auch diese Tat als Aktion der Verzweiflung deuten? Vielleicht fühlten sich die Studenten im Stich gelassen von einer Theorie, der sie zumindest zutrauten, sie ließe sich in gesellschaftsändernde Praxis umsetzen?

ADORNO: Die Studenten haben gar nicht versucht, mit mir zu diskutieren. Was mir den Umgang mit den Studenten heute so erschwert, ist der Vorrang der Taktik. Meine Freunde und ich haben das Gefühl, daß wir nur noch Objekte in genau kalkulierten Plänen sind. Der Gedanke an das Recht von Minderheiten, der ja schließlich für die Freiheit konstitutiv ist, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Gegen die Objektivität der Sache macht man sich blind.

SPIEGEL: Und angesichts solcher Nötigungen verzichten Sie auf eine Verteidigungs-Strategie?

ADORNO: Mein Interesse wendet sich zunehmend der philosophischen Theorie zu. Wenn ich praktische Ratschläge gäbe, wie es bis zu einem gewissen Grad Herbert Marcuse getan hat, ginge das an meiner Produktivität ab. Man kann gegen die Arbeitsteilung sehr viel sagen, aber bereits Marx, der sie in seiner Jugend aufs heftigste angegriffen hat, erklärte bekanntlich später, daß es ohne Arbeitsteilung auch nicht ginge.

SPIEGEL: Sie haben sich also für den theoretischen Teil entschieden, die anderen können den praktischen erledigen; sie sind bereits dabei. Wäre es nicht besser, wenn die Theorie gleichzeitig die Praxis reflektieren würde? Und damit auch die gegenwärtigen Aktionen?

ADORNO: Es gibt Situationen, in denen ich das täte. Im Augenblick allerdings scheint mir viel wichtiger, erst einmal die Anatomie des Aktionismus zu bedenken.

SPIEGEL: Also wieder nur Theorie?

ADORNO: Ich räume der Theorie zur Zeit höheren Rang ein. Ich habe — vor allem in der „Negativen Dialektik“ — diese Dinge längst angefaßt, ehe es zu diesem Konflikt kam.

SPIEGEL: In der „Negativen Dialektik“ finden wir die resignierte Feststellung: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Wird eine solche Philosophie — jenseits aller Konflikte — nicht zur „Narretei“? Eine Frage, die Sie selbst sich gestellt haben.

ADORNO: Ich glaube nach wie vor, daß man gerade unter dem allgemeinen Praxiszwang einer funktionalen pragmatisierten Welt an der Theorie festhalten sollte. Und ich lasse mich auch durch die jüngsten Ereignisse nicht von dem abbringen, was ich geschrieben habe.

SPIEGEL: Bisher, so formulierte einmal Ihr Freund Habermas, hat sich Ihre Dialektik an den „schwärzesten Stellen“ der Resignation, dem „destruktiven Sog des Todestriebes“, überlassen.

ADORNO: Ich würde eher sagen, daß der krampfhafte Hang zum Positiven aus dem Todestrieb kommt.

SPIEGEL: Dann wäre es die Tugend der Philosophie, dem Negativen ins Auge zu sehen, aber nicht, es zu wenden?

ADORNO: Die Philosophie kann von sich aus keine unmittelbaren Maßnahmen oder Änderungen empfehlen. Sie ändert gerade, indem sie Theorie bleibt. Ich meine, man sollte doch einmal die Frage stellen, ob es nicht auch eine Form des Sich-Widersetzens ist, wenn ein Mensch die Dinge denkt und schreibt, wie ich sie schreibe. Ist denn nicht Theorie auch eine genuine Gestalt der Praxis?

SPIEGEL: Gibt es nicht Situationen. wie zum Beispiel in Griechenland, in denen Sie, über kritische Reflexion hinaus, Aktionen befürworten würden?

ADORNO: In Griechenland würde ich selbstverständlich jede Art von Aktion billigen. Dort herrscht eine total andere Situation. Doch aus dem sicheren Hort zu raten, macht ihr mal Revolution, hat etwas so Läppisches, daß man sich genieren muß.

SPIEGEL: Sie sehen also die sinnvollste und notwendigste Form Ihrer Tätigkeit in der Bundesrepublik nach wie vor darin, die Analyse der Gesellschaftsverhältnisse voranzutreiben?

ADORNO: Ja, und mich in ganz bestimmte Einzelphänomene zu versenken. Ich geniere mich gar nicht, in aller Öffentlichkeit zu sagen, daß ich an einem großen ästhetischen Buch arbeite.

SPIEGEL: Herr Professor Adorno, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.“

Das Strafverfahren gegen Krahl

Adorno äußerte sich dazu in einem Brief an Alexander Kluge:

„Ich sehe nicht ein, warum ich mich zum Märtyrer des Herrn Krahl machen soll, von dem ich mir doch ausdachte, dass er mir ein Messer an die Kehle setzt, um mir diese durchzuschneiden, und auf meinen gelinden Protest erwidert: Aber Herr Professor, das dürfen Sie doch nicht personalisieren.“

Brief an Alexander Kluge, 1. April 1969, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.): Frankfurter Adorno Blätter, Band VI, edition text + kritik, 2000,
S. 100.

Krahl hingegen spottet nur über die Praxisfeindlichkeit Adornos.

„Als wir vor einem halben Jahr das Konzil der Frankfurter Universität belagerten kam als einziger Professor Herr Adorno zu den Studenten, zum sit-in. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrophon zu und bog kurz vor dem Mikrophon ins Philosophische Seminar ab; also kurz vor der Praxis wiederum in die Theorie. Das ist im Grunde genommen die Situation, in der die Kritische Theorie heute steht. Sie rationalisiert ihre resignative und individualistisch-subtile Angst vor der Praxis dahin, Praxis sei gewissermaßen unmöglich, man müsse sich ins Gehäuse der Philosophie zurückziehen.“

Krahl, 1971, Seite 257

Die Gleichstellung der rebellierenden Studenten mit verfolgten Juden

Verstörend ist es, dass Adorno einerseits den Studenten vorwirft, eine Scheinrevolte zu betreiben, aber andererseits maßlos übertreibend bestätigt, sie seien ähnlich wie die Juden Verfolgte des Staates:

„So genau ich weiß, dass die Studenten eine Scheinrevolte betreiben und das eigene Bewusstsein der Unwirklichkeit ihres Treibens durch ihre Aktionen übertäuben, so genau weiß ich auch, dass sie, und die Intellektuellen überhaupt, auf der Plattform der deutschen Reaktion die Rolle der Juden übernommen haben.“

Theodor W. Adorno, Brief an Günter Grass vom 04.11.1968, zit. nach Kraushaar 1998, Band
2, S. 473

Der Tod Adornos

Nur wenige Tage nach der Gerichtsverhandlung gegen Krahl, an der Adorno als Zeuge teilnehmen muss, stirbt Adorno an einem Herzversagen.

Theodor W. Adorno Studentenbewegung, Todesanzeige
Theodor W. Adorno Studentenbewegung
Nur wenige Tage später ist er auch als Person tot!
Adorno
FAZ 17. August 1969

VIII. Rückschau eines Kardiologen auf den Tod Adornos

Nicht uninteressant ist die Rückschau eines Kardiologen aus der Schweiz vom 7. September 2019 auf den Tod Adornos in Zermatt. Thomas Lüscher äußert sich hierzu in der offiziellen Fachzeitschrift „Cardiovascular Medicine“ der Swiss Society of Cardiology folgendermaßen:

Vierzig Jahre ist es her: Am 6. August 1969 erfuhr die deutschsprachige Öffentlichkeit vom unvermuteten Hinschied ihres Vordenkers Theodor W. Adorno (eigentlich Theodor Wiesengrund Adorno) während seines wohlverdienten Sommerurlaubs in den Schweizer Bergen, genauer am Eingang des Mattertales nahe Visp, dem Hauptort des gleichnamigen Bezirks im Kanton Wallis. Zwei Wochen zuvor war Adorno erschöpft von den Ereignissen turbulenter Tage an der Universität Frankfurt mit seiner Ehefrau Gretel nach Zermatt gefahren, um standesgemäss im Hotel «Bristol» einige erholsame Urlaubstage zu verbringen. Wenige Tage danach besuchten die beiden entgegen dem Rat ihres langjährigen Hausarztes (wenn auch aus Vorsicht nicht zu Fuss, sondern mit der Seilbahn) einen nahen Dreitausender. Auf dem Gipfel angelangt, setzte bei Adorno Angina pectoris ein, Brustschmerzen also, wohl ausgelöst durch eine Unterversorgung des Herzmuskels mit Sauerstoff, ein besonders in grosser Höhe untrügliches Zeichen einer koronaren Herzkrankheit. Sie zwang ihn zum Abbruch des Ausflugs. Einmal im tiefer gelegenen Visp angekommen, stellten sich die Herzbeschwerden erneut ein und Adorno musste sich im Spital untersuchen lassen. Trotz den Bemühungen der Ärzte vor Ort verstarb Adorno am nächsten Tag, denn wenig stand damals zur Verfügung.
Hilflose Ärzte
Ja, die Kardiologie konnte sich 1969 noch nicht wirklich sehen lassen. Wenn auch die Herzchirurgen mit Pioniertaten wie der Bypassoperation und Herztransplantation glänzten, wussten die Mediziner bei Herzinfarktpatienten kaum mehr als tender loving care zu bieten. Gewiss, ein EKG stand wohl auch im Spital Visp zur Verfügung, doch ausser Nitroglycerin und vielleicht Heparin war nichts Wirksames vor Ort. Selbst Biomarker für die Diagnostik waren noch kaum verbreitet, die Kreatininkinase war der einzige Marker, mehr kannte die ärztliche Praxis nicht. Die Koronarangiographie stand in grossen Zentren dank Mason Soanes Pioniertat zur Verfügung (in Zürich hatte Paul Lichtlen als erster Schweizer Kardiologe die Untersuchung gerade erst eingeführt), doch wurde sie mit grosser Vorsicht und gewiss nicht bei Infarktpatienten eingesetzt. Die primäre perkutane koronare Intervention (PCI) war noch nicht erfunden und selbst die hemmende Wirkung von Aspirin auf die Thrombozytenfunktion wurde von Sir John R. Vane erst 1971 entdeckt. Auf den Beweis, dass Aspirin auch wirklich das Risiko eines Infarkttodes senkt, musste die Medizin noch fast 20 Jahre warten. Kurz und gut: Der fatale Verlauf eines Infarktes bei einem 66-jährigen erschöpften Diabetiker mit wohl einer Dreigefässerkrankung war damals gewiss unausweichlich.
Die Vorgeschichte
Den unvermuteten Herzbeschwerden waren Demütigungen durch die sich radikalisierenden Studenten der 68-er Bewegung, die sich besonders in Frankfurt und Berlin Gehör verschafft hatten, vorausgegangen: Zwar galt Adorno den revolutionären Studenten, die er mit seinen Vorlesungen und Schriften inspiriert hatte, anfangs als Leitfigur. Doch als sich die Studenten zunehmend radikalisierten, wurde ihnen der zurückhaltende Theoretiker, der die revolutionäre Praxis lieber vertagen als führen wollte und den rohen Unmittelbarkeitskult der Macher des Tages verabscheute, zum Hindernis. Als einige Monate zuvor, am 7. Januar 1969, die linken Studenten sein Frankfurter Institut für Sozialforschung besetzten, sah sich der Denker der Negativen Dialektik gezwungen, die Polizei zu rufen und gegen seinen Doktoranden und Anführer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes Hans-Jürgen Krahl Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zu erstatten – der bewunderte Vor-Denker wurde den Studenten unvermutet zum Verräter. An der Wandtafel des Hörsaals musste Adorno lesen: «Wer nur den lieben Adorno lässt walten, der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten.»
Das Busenattentat
Monate später, am 22. April des gleichen Jahres, folgte das «Busenattentat»: Drei barbusige Studentinnen bedrängten den wie immer mit Anzug und Krawatte bürgerlich korrekt gekleideten Denker, der sich mit seiner Aktentasche wild um sich schlagend zu wehren versuchte und den Hörsaal fluchtartig verliess. Adorno fühlte sich durch die Rohheit der eskalierenden Studentenproteste schwer getroffen. Die Anspielung auf seine Schwäche für schöne Frauen, die Andeutung, der berühmte Denker sei ein lüsterner Onkel, kam einer öffentlichen Beschämung gleich. Wenig später, am 12. Juni, kam es erneut zu Tumulten in seiner Vorlesung. Er, ein Intellektueller spätbürgerlicher Prägung, sah in den Protesten der Studenten eine unkultivierte Grobschlächtigkeit. Frustriert gab er seine Lehrtätigkeit in Frankfurt für das verbleibende Sommersemester auf. Als ob damit noch nicht genug gewesen wäre, musste Adorno am 18. Juli vor Gericht als Zeuge gegen seinen Dissertanden Hans-Jürgen Krahl aussagen. Kurz darauf floh er in die Schweizer Bergwelt – die Auseinandersetzung von Theorie und Praxis endete für den sensiblen Denker tödlich. Wie einst Goethes Zauberlehrling («Walle! Walle manche Strecke, daß zum Zwecke Wasser fließe und mit reichem, vollem Schwalle zu dem Bade sich ergieße»), wurde er von den Folgen seines Tuns überrannt.
L‘Affaire
Ob die letzte aussereheliche Affäre des kleingewachsenen und glatzköpfigen Denkers mit der jungen Muse Arlette Pielmann, Schauspielerin, Malerin und Fotomodell, ihren Teil beitrug, sei dahingestellt. Immerhin ist beim Mann ein Zusammenhang von ausserehelichen Affären mit kardialen Ereignissen belegt. Die Frage bleibt im Raum: Waren es Herzensangelegenheiten oder die beruflichen Enttäuschungen, die das unerwartete Ende mit sich brachten? Gewiss, die arteriosklerotischen Plaques in den Herzkranzgefässen, die Adorno zum Verhängnis wurden, hatten sich über Jahre und Jahrzehnte und nicht erst in den letzten Wochen ausgebildet. Der etwas übergewichtige Diabetiker hatte alle Voraussetzungen; die Plaques in seinen Herzkranzgefässen, die ihn umbrachten, warteten nur auf den Moment, um Unheil zu stiften. Das Substrat für den Auslöser der letzten Stunde stand schon lange in seinem Inneren bereit, wurde wohl aber durch privaten und beruflichen Stress vulnerabel. Als Trigger dürfte der Ausflug in die Berge gewirkt haben. Für jemanden, der im Alltag in Frankfurt 112 Meter über dem Meeresspiegel lebte und sich unangepasst auf 3000 Meter Höhe begab, war ein solcher Ausflug mit einem Abfall der Sauerstoffsättigung und einer Tachykardie verbunden – beides Ereignisse, die bei einem Diabetiker mit koronarer Herzkrankheit und einer vulnerablen Plaque nicht erwünscht sind. Der Schmerz der sich in Visp erneut einstellenden Angina war wohl ein weiterer und letzter Trigger, der das sympathische Nervensystem stimulierte und als unabhängiger Risikofaktor für den Herztod gilt. […]. Und Machbares gibt es bei aller Bedeutung der Veranlagung zweifellos nicht nur beim Lernen, sondern auch in der Prävention der koronaren Herzkrankheit: Bewegung und Sport, meist bei Denkern weniger verbreitet, Verzicht auf Rauchen, selbst beim Schmieden grosser Gedanken, Halten des Normalgewichts zur Vorbeugung von Hochdruck und Diabetes trotz sitzender Lebensweise haben unzweifelhaft ihre Wirkung, gerade bei den genetisch Vorbelasteten, wie wir kürzlich gelernt haben. Dennoch lässt sich – ähnlich wie bei begabten Musikern ‒ die Genetik, die beispielsweise weitgehend LDL-Cholesterin und Lipoprotein(a) bestimmt, nicht zur Seite wischen. In der Prävention bewegt sich die Dialektik zwischen Genetik und Umwelt, zwischen Vorbestimmtheit und dem eigenen Lebensstil.

Thomas Lüscher, Herztod in den Bergen ‒ zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno, Cardiovasc Med. 2019;22:w02067, 07.09.2019

Eine hässliche Würdigung Adornos im Spiegel

In einem erbärmlichen Spiegel-Artikel vom 17.08.2003 befasst sich Johannes Saltzwedel rückschauend mit Adornos Privatleben.

Zitat:

Narziss und Nilpferdkönig „Der Allround-Intellektuelle Theodor Wiesengrund-Adorno inszenierte sich im Nachkriegsdeutschland virtuos als Vordenker und Gewissen der Nation. Zum 100. Geburtstag huldigen gleich drei Biografen dem widersprüchlichen, egomanischen Genie.“

Siehe hingegen den wohltuenden Artikel von M. Schönwetter: Eine sexistische Aktion feministisch lesen? Eine Kritik an Heide Oestreichs Kolumne ›Sechs Brüste für Teddy. Das „Busenattentat“ auf Adorno.